Zaertliches Duell
sie außer sich. »Wo können sie nur sein? Sie ist minderjährig! Selbst wenn Arthur eine besondere Lizenz hätte, würde niemand sie trauen. Das weiß sie und er doch sicherlich auch.«
»Natürlich wissen sie es, und sie kennen auch den einen Ort, wo man sie traut, ohne Fragen zu stellen!« Er sah die Verwirrung in ihrem Gesicht, ging auf sie zu und schüttelte sie unsanft. »Sie sind zur Grenze gefahren, mein Unschuldslamm! Das wird eine Gretna-Green-Affäre – ein reizender Plan, nicht?«
»Gretna Green?« wiederholte sie. Das Blut schoß ihr in die Wangen. Sie stieß ihn von sich und rief: »Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen? Niemals würde Lucy sich so ungebührlich benehmen!«
»Dann habe die Güte, mir zu sagen, wohin sie sonst gefahren sind – mit dem Vorhaben einer Eheschließung!«
»Das weiß ich nicht«, rief sie und rang, ohne es zu merken, die Hände. »Außer – Ach, könnten sie einem Geistlichen eingeredet haben, daß Lucy bereits mündig sei?«
»Dafür können sie kaum eine Postkutsche und vier Pferde benötigt haben. O ja, soviel habe ich bereits festgestellt – und auch, daß die Kutsche für eine unbestimmte Zeit gemietet wurde und die Postjungen für zwei Etappen. Nach Welwyn, und Welwyn liegt, wenn ich dich erinnern darf, an der nordwärts führenden Hauptstraße!«
»O nein«, protestierte sie. »Ich kann es nicht glauben.«
»Nun, das spielt keine Rolle«, sagte er unfreundlich. »Jedenfalls habe ich meine Pflicht getan und muß jetzt aufbrechen. Ich werde sie weit vor der Grenze einholen und bemüht sein, dir deine Nichte mit möglichst wenig Aufsehen zurückzuschicken, also verzweifle nicht!«
»Warte«, rief sie. »Wenn das wahr ist – Was schrieb sie da? – ›verabscheuungswürdig für sie wie für mich – furchtbare innere Kämpfe – alle Welt schockieren‹ – Mein Gott, sie muß den Verstand verloren haben! Iver, sie verließ das Haus vor zehn Uhr! Kannst du sie überhaupt noch einholen?«
»Hast du Lust, eine Wette zu wagen, daß mir das noch bis zum Einbruch der Nacht gelingen wird? Ich würde an deiner Stelle nicht dagegen wetten.«
»Dann gib mir zehn Minuten, und ich bin bereit, mit dir zu fahren«, sagte sie und eilte zur Tür.
»Sei nicht töricht! Ich nehme weder dich noch sonst jemand auf diese Verfolgungsfahrt mit. Nicht einmal meinen Diener!«
»Ich hoffe, daß du deinen Diener nicht mitnimmst! Aber mich nimmst du mit, finde dich damit ab, Iver! Wer soll Lucys guten Ruf schützen, wenn nicht ich? Du kannst das bestimmt nicht – im Gegenteil!«
»Danke. Laß dir sagen, daß ich nicht in einer Postkutsche reise, sondern in meinem eigenen Karriol!«
»Das ist mir egal! Und laß dir sagen, daß dies nicht das erste Mal ist, daß ich in einem Karriol reise – oder es kutschiere, wenn es darauf ankommt!«
»Dazu wird es nicht kommen!« rief der Lord der hinauseilenden Miss Tresilian hinterher.
Die ersten paar Meilen der Reise legten sie schweigend zurück, da Miss Tresilian ihren aufwühlenden Gedanken nachhing, während Lord Ivers Aufmerksamkeit zur Gänze von der Aufgabe beansprucht wurde, seine temperamentvollen Pferde durch den Lärm und das Gedränge der überfüllten Straßen zu lenken. Sein Karriol war leicht gebaut und gut gefedert; und da er, wie jeder sportliche Herr in diesen Tagen, nicht zwei, sondern vier Pferde vorgespannt hatte, flog der Wagen, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, in einem solchen Tempo dahin, daß wenigstens eine von Miss Tresilians Ängsten verschwand. Der Junitag war freundlich und warm, die Landstraße in ausgezeichnetem Zustand, und all dies half ihr, ihre Fassung wiederzufinden. Als Lord Iver durch Barnet fuhr, ohne stehenzubleiben, fragte sie, wann er die Absicht habe, Pferde zu wechseln. Er erwiderte kurz, sein Gespann könne ohne weiteres zwei Etappen bewältigen. Miss Tresilian versank wieder in Schweigen, aber nach etwa zwanzig Minuten sagte sie unvermittelt: »Ich kann mir nicht helfen, ich glaube, wir jagen einem Phantom nach.«
»Würdest du mir dann vielleicht sagen, warum du mich zwangst, dich mitzunehmen?«
»Für den Fall, daß du doch recht hast – aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich es.«
Doch in Welwyn, wo der Lord seine eigenen Pferde unterbrachte und neue vorspannen ließ, wurde ihr Optimismus zerstört. Einer der Kellner im »Weißen Hirschen« hatte reichlich Gelegenheit gehabt, einen gutaussehenden jungen Herrn zu beobachten, der aus einer
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