Zärtlichkeit des Lebens
neuen Arbeitsplatz einzugewöhnen, das entdeckte Sarah nun, war ein langer und schwieriger Prozeß.
Den vierten Abend hintereinander verließ sie das Büro erst nach sieben Uhr. Sie entdeckte Mugs an ihrem Schreibtisch lümmelnd, ein Taschenbuch mit dem zweifelhaften Titel ›Wilde Nächte im Waschsalon‹ in der einen und eine halbaufgegessene Banane in der anderen Hand.
»Mugs.« Sarah stellte ihre Aktentasche auf die Schreibtischkante und wartete, daß Mugs sich von ihrem Buch losriß. »Sie hätten doch nicht warten müssen.«
»Ist schon in Ordnung, Miß Lancaster.« Mugs lächelte sie fröhlich an, dann pustete sie sich den Lockenwust aus den Augen. »Es hat mir nichts ausgemacht. Hätte ja sein können, daß Sie noch was brauchen.«
»Es ist Freitagabend«, erinnerte sie Sarah mit einem flüchtigen Blick auf die Armbanduhr. »Sie sind doch bestimmt verabredet.«
»Klar.« Mugs grinste. »Jerry holt mich ab; er arbeitet in der Buchhaltung. Wir gehen nur auf eine Pizza und ins Kino, nichts Besonderes.«
Einen Augenblick lang beneidete Sarah sie um ihren Jerry aus der Buchhaltung mit seiner Pizza und dem Kino. Seufzend hob sie die Aktentasche hoch. »Kommen Sie, sausen Sie ab ins Wochenende. Ich muß in aller Frühe aufstehen und mich wieder auf die Wohnungssuche machen.«
»Hat Ihnen die Personalabteilung keine Liste gegeben?«
fragte Mugs, während sie den letzten Bissen ihrer Banane verschlang. Sie ließ die Schale in den Abfalleimer fallen, verstaute das Buch in ihrer Handtasche und stand auf.
»Doch, aber bis jetzt…«, schulterzuckend ließ Sarah den Satz unvollendet. Während Mugs die Lichter ausschaltete, ging sie zur Tür.
»Kann ich mal einen Blick drauf werfen?« Sarah nahm die Liste auf ihrem Weg zum Aufzug aus ihrer Tasche, warf einen flüchtigen Blick auf die Tür des Privataufzugs und fragte sich, ob sich Byron wohl in seinem Penthouse aufhielt. Er war wohl kaum allein, dachte sie. Dann runzelte sie angesichts ihres Gedankengangs die Stirn.
»Die hier«, bemerkte Mugs und lenkte Sarahs Aufmerksamkeit wieder auf sich. Sie tippte mit einem unlackierten, abgekauten Fingernagel auf eine Adresse aufs Sarahs Liste. »Die ist genau richtig für Sie, Mrs. Lancaster.
Darauf können Sie Gift nehmen.« Mugs holte per Knopfdruck den Aufzug, ehe sie Sarah die Liste zurückgab.
»Ich schaue sie mir morgen gleich als erstes an«, versprach Sarah. Plötzlich war sie müde. Der Gedanke an einen langen, ruhigen Abend allein schien einladend. Sie hörte das Rumpeln des herauffahrenden Aufzugs und wandte sich wieder Mugs zu.
»Mugs«, sagte sie betont neugierig. »Was genau kann in einem Waschsalon passieren?«
Mugs rollte dramatisch die Augen. »Sie würden es nicht glauben, Mrs. Lancaster. Sie würden es einfach nicht glauben.«
Sie stiegen in den Aufzug, während Mugs ihr Taschenbuch durchblätterte.
Sarah hatte sich bei ihrer Wohnungssuche auf die Stadtmitte konzentriert; der Stadtkern mit seinem Lärm und dem Verkehrsgetümmel waren ihr vertraut. Am Stadtrand von Phoenix erstreckte sich weites, verdorrtes Land, dahinter ragten in einiger Entfernung die Berge auf. Zwischen ihnen und der Stadt erstreckte sich die Wüste; offen, dürr, leer. Dort gab es spitze Felsen und Canyons, Höhlen und Kakteen, warme Farben, Raum, Stille. Für Sarah hatte der Wechsel von Ost nach West schon genug an Anpassung gefordert. Sie wollte sich der Weite jetzt noch nicht aussetzen.
Sarah war in einem Vorort aufgewachsen. Ihr bisheriges Leben als Erwachsene hatte sie in einer der größten Städte der Welt verbracht und war dabei regelrecht aufgeblüht. In ihrem Leben hatte es immer Menschenmengen und nahezu ununterbrochene Bewegung gegeben. Da sie dachte, daß die Wüste ihr zu leer, zu still und zu reglos sei, hatte Sarah beschlossen, sie zu meiden.
Obwohl der von Mugs empfohlene Wohnblock näher am Stadtrand lag, als Sarah eigentlich lieb war, wollte sie ihn sich doch anschauen. Nachdem sie bereits sechs Objekte auf der Liste besichtigt und abgelehnt hatte, war sie nun bereit, auf Mugs Vorschlag einzugehen. Doch als sie von der Eingangshalle zu der leeren Wohnung ging, war sie alles andere als zuversichtlich. Warum sollte diese Wohnung hier anders sein? Sie war sicher entweder zu klein oder zu groß, und der Herd bestimmt Ausschuß von vorgestern. Seufzend klimperte sie mit den Schlüsseln und blieb vor 612 kurz stehen. Dann warf sie sich das Haar über die Schulter zurück und steckte den Schlüssel ins Schloß.
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