Zärtlichkeit, die du mir Schenkst
interessante Buch aus der öffentlichen Bücherei gelesen, jedes Theaterstück gesehen, das in der Stadt aufgeführt worden war, und genug Tücher gestickt, um damit den Weg zur Hölle zu bedecken. Sie war es leid, die Zeit totzuschlagen, den Schein zu wahren und darauf zu warten, dass ihr Leben endlich anfing. Wenn nicht bald etwas geschah, nun, dann wusste sie nicht, was sie tun würde.
Nach und nach trudelten die anderen Frauen ein, die in der Pension wohnten. Die meisten gähnten und trugen ein Negligee oder einen Morgenrock. Einige begrüßten Emmeline mit mahnend erhobenem Zeigefinger, andere lächelten schläfrig. Nach der Uhr auf dem Kaminsims war es dreizehn Uhr - von ihrem Standpunkt aus gerade Morgengrauen.
Becky gab sofort Anweisungen, ein General in Seide und Tüll. Sie schickte ihre »Soldaten« in ihre Zimmer, um sich dort reizvoll zurechtzumachen, bevor sie ihre Gefechtsstationen im unteren Salon einnahmen. Dieser prächtige Raum hatte Emmeline schon immer fasziniert, obwohl sie ihn selten betreten durfte. An den Wänden hingen Gemälde von splitternackten Frauen, auf dem Boden lagen orientalische Teppiche, und die schweren Vorhänge waren mit goldenen Fransen besetzt. Das Zigarrenrauchen war erlaubt, und Whisky wurde serviert, diskret, denn Becky hatte keine Lizenz zum Verkauf von alkoholischen Getränken. Aber sie fürchtete das Gesetz nicht. Der Marshal und seine Deputys waren Stammgäste, und weil sie vom Stadtrat nur ein jämmerliches Gehalt erhielten, bekamen sie bei Becky stets einen Sonderpreis.
Heute war für Emmeline dieser geheimnisvolle Raum einfach unwiderstehlich.
Emmeline bemühte sich, ihre abenteuerliche Natur zu zügeln - es war die gleiche ruhelose Ader, wegen der sie fast verhaftet worden wäre, weil sie in einer mondhellen Nacht mit zwei »wilden« Mädchen nackt im Mühlenteich gebadet hatte -, doch die kommenden Stunden waren zu lang und zu langweilig, und sie erlag der Versuchung.
Becky war eine Stunde fort, als Emmeline wie ein Geist nach langem, langem Schlaf aus der Flasche schlüpfte, heimlich in das luxuriöse Schlafzimmer ihrer Tante schlich und den massiven Kleiderschrank gegenüber des Kamins öffnete. Das Innere barst fast vor farbiger Seide, Satin, Samt und Spitze - solch ein köstlicher Kontrast zu ihrem praktischen braunen Leinenkleid - und einer Fülle von Federn, Armreifen und Perlenketten. Nach einiger Überlegung wählte sie ein gewagtes rotes Kleid aus glänzendem Stoff mit einem Besatz aus schwarzer Spitze, zog ihr eigenes Kleid aus und Tante Beckys Kleid an. Sie stand wie gebannt vor Beckys Spiegel und betrachtete sich.
Emmeline erkannte sich kaum. Sie löste ihr fast blondes Haar, das im Nacken in einem strengen Knoten zusammen-gefasst war, und kniff sich in die Wangen. Ihre graugrünen Augen, die sonst ruhig blickten, funkelten feurig, und sie nahm eine provokative Pose ein, stemmte die Hände in die Hüften und reckte den Busen vor. Sie lächelte frivol, wie sie es unzählige Male bei den anderen Mädchen gesehen hatte, drehte sich einmal um die eigene Achse und bewunderte sich.
Sie liebte es, so zu tun, als wäre sie jemand ganz anderes, jemand völlig Neues, kühn und sogar ein wenig schamlos, und es widerstrebte ihr, zu ihrer normalen langweiligen Persönlichkeit zurückzukehren.
Was kann es denn schaden, wenn ich nach unten schleiche, nur für ein paar Minuten, und mich unter die anderen mische?, sagte sie sich. Dort war es bereits rappelvoll; der Lärm von unten verriet ihr das. Wenn sie sich am Rande der Versammelten hielt, würde sie von Becky nicht gesehen werden, und sie konnte ein bisschen harmlos schauspielern, mit einem Cowboy flirten, vorgeben, eine Dame der Nacht zu sein, und sich dann wieder nach oben stehlen, ohne jemals entdeckt zu werden.
Es lief fast alles wie geplant ab.
Fast.
Emmeline schwang mit den Hüften, als sie die Treppe hinabstieg und die ganze Zeit nach ihrer Tante Ausschau hielt. Wie sie gehofft hatte, hielt Becky in einer Ecke des
Salons Hof, umgeben von Cowboys, die sich fein gemacht hatten und Schnaps tranken. Die anderen Frauen waren ebenfalls beschäftigt, plauderten, gaben vor, wahrsagen zu können, oder servierten Getränke.
Ihr Blick glitt unfehlbar zu dem größten und beeindruckendsten Mann im Salon. Nach der Aura der Autorität zu schließen, war er der Trailboss oder sogar der Besitzer einer großen Ranch unten an der mexikanischen Grenze. Er hatte welliges braunes Haar und haselnussbraune Augen, und
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