Zahn, Timothy - Jagd auf Ikarus
über mir gekommen zu sein, wobei der Begriff »über« sich auf die Richtung zum Oberdeck der Ikarus bezog – dann war das also die Richtung, in die ich mich bewegte. Ich kam langsamer voran, als ich erwartet hatte. Zum Teil lag dies an der unbequemen Art der Fortbewegung und der Notwendigkeit, mich möglichst leise zu verhalten, teils am unangenehmen Schwindelgefühl, weil der Kopf sich ausgerechnet an der Linie entlangbewegte, wo die zwei widerstreitenden Schwerefelder mit etwa gleicher Stärke aufeinandertrafen. Und dieser Effekt verstärkte sich noch, als ich das mittlere Deck passierte und mich in einem Bogen auf die Oberseite des Schiffs zubewegte, wobei der Winkel zwischen den Schwerkraft-Vektoren sich allmählich von neunzig Grad zu noch unangenehmeren hundertachtzig Grad spreizte.
Ich weiß nicht, wie lange diese Zeitlupen-Verfolgung noch weiterging. Nicht lange, glaube ich, nicht mehr als insgesamt fünfzehn oder zwanzig Minuten. Angesichts der schmerzenden Knie, des benebelten Kopfs und des Umstands, dass ich mit einem Menschen, der schon einmal getötet hatte, allein in einem dunklen Raum war, war es an diesem Abend um mein Zeitgefühl nicht zum Besten bestellt. Etwa jede halbe Minute hielt ich inne, um zu lauschen, sondierte mit angespannten Sinnen das leise Hintergrundrumoren und die Schwingungen des Schiffs und versuchte, den Standort des Gegners neu zu bestimmen.
Es war bei der fünften oder sechsten Pause, als ich erkannte, dass die bisherigen sporadischen, fahrlässig verursachten Kratzgeräusche sich plötzlich in ein fast konstantes Geräusch verwandelt hatten. Stetige Kratzgeräusche, die paradoxerweise viel leiser waren als die bisherigen Geräusche.
Der Gegner wusste, dass ich hier war!
Die ganze Zeit hatte ich das Bild einer Spinne an der Wand vor mir gehabt. Nun verwandelte sich das Bild plötzlich von einer Spinne in eine Fliege. Eine Fliege, die von einem Lichtstrahl an eine schneeweiße Wand gepinnt wurde. Für ein Dutzend Herzschläge hockte ich reglos und schwitzend in der Dunkelheit, während ich angestrengt lauschte und herauszufinden versuchte, ob die Geräusche sich auf mich zubewegten oder sich von mir entfernten. Letzteres würde bedeuten, dass er einen Fluchtversuch unternahm, und Ersteres, dass er noch ein Attentat plante. Und wenn hier eines mit Sicherheit feststand, dann das, dass ich mir keine Fehleinschätzung leisten konnte.
Ich lauschte also für dieses Dutzend Herzschläge, und dann wusste ich Bescheid. Die Geräusche entfernten sich definitiv, wahrscheinlich rechts von mir weg, obwohl das Echo eine genaue Peilung unmöglich machte.
Sämtliche Gründe, weshalb ich ihm überhaupt nicht erst an diesen Ort hätte folgen sollen, schossen mir plötzlich wieder durch den Kopf. Und wieder schob ich sie beiseite. Ich hatte bereits ein paar Runden an diesen Gegner verloren, und das stank mir allmählich. Ich wählte einen Vektor, der seinen theoretischen schneiden würde, und nahm die Verfolgung wieder auf.
Bis zu diesem Punkt war es wirklich eine Zeitlupen-Verfolgung gewesen. Nun wurde es ein Zeitlupen-Wettrennen zwischen Hund und Hase. Ich legte immer öfter eine Pause ein, um zu lauschen, doch mein Gegner tat das Gleiche, und oft genug hielt ich nur inne, um dann festzustellen, dass er schon wieder die Richtung geändert hatte. Ich ließ aber nicht locker, wobei ich die Möglichkeit eines Hinterhalts, die mir zuvor schon in den Sinn gekommen war, immer im Hinterkopf behielt. Bislang hatte unser Saboteur nicht erkennen lassen, ob er bewaffnet war, aber alle anderen, mit denen ich auf dieser Reise bisher zu tun gehabt hatte, waren bewaffnet gewesen. Und es gab auch keinen Grund zu der Annahme, dass, wer auch immer die Waffen so großzügig ausgegeben hatte, seinen Freund hier an Bord der Ikarus stiefmütterlich behandelt hätte.
Mehr als einmal spielte ich auch mit dem Gedanken, mit dem Kolben der Plasmawaffe gegen die innere Hülle zu schlagen, um dadurch die Aufmerksamkeit der übrigen Besatzungsmitglieder zu erregen und sie in die Suche mit einzubeziehen. Aber ich hatte inzwischen dermaßen die Orientierung verloren, dass ich gar nicht wusste, ob ich mich nah genug an einem der anderen befand, um mich mit Klopfzeichen bemerkbar machen zu können. Und ob einer der anderen mich hörte oder nicht – mein Spielkamerad hier drin würde mich sicherlich hören; und wenn ihm bewusst wurde, dass ich Alarm schlagen wollte, würde er seinen Fluchtplan vielleicht zurückstellen
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