Zander, Judith
mich manchmal und manchmal nicht.
Wie ein schöner oder schlechter Traum hatte das Einfluss auf den ganzen restlichen
Tag, natürlich auch die Tatsache, ihn gar nicht zu sehen, so dass ich behaupten
konnte, eigentlich die ganze Zeit unter Tobias-Einfluss zu stehen, was in mir
eine Art von Gefühlen auslöste, die andere Leute vielleicht für ihre Heimat
aufbringen. Es beruhigte mich. Zumindest war das bis vor kurzem noch so, jetzt
hab ich gerade so was wie Fernweh.
Übrigens begann diese ganze
Tobias-Schneider-Geschichte auch verrückterweise mit einem Traum, völlig aus
dem Nichts heraus träumte ich eines Nachts von ihm, eigentlich was total Belangloses:
Ich fand seine Brieftasche, die merkwürdigerweise aus gelbem Leder war -
wochenlang beschäftigte mich dann hauptsächlich diese Frage: warum gelb? (ich
interessierte mich auch gerade für Traumdeutung, natürlich auf etwas
gehobenerem Niveau als gelb gleich Neid und Eifersucht, obwohl ich zeitweise
auch für solche platten Schemen nicht ganz unempfänglich war und sie wohl bloß
verwarf, weil ich mir auch damit keinen Reim auf die Sache machen konnte) -
jedenfalls, nach dem Aufwachen wusste ich: der oder keiner. Weshalb ich auch
mit einer gewissen irrationalen Hartnäckigkeit seit mehr als zwei Jahren an diesem
Tobias-und-ich-Traum hänge, Vorherbestimmung und all das. Dabei könnte ich ihn
zum Beispiel sowieso nicht heiraten, schon allein wegen seines Nachnamens.
Mamas an diesem bestimmten Idol orientierte Namenswahl für mich muss nicht auch
noch auf solch explizite Weise Genüge getan werden. Nicht, dass ich überhaupt
jemanden heiraten wollte. Und ich weiß ohnehin, dass es aussichtslos ist, ich
meine, das mit Tobias und mir. Das scheint geradezu eine Regel heimlicher
Verliebtheit zu sein. Vielleicht hängt sie mit der anderen zusammen, der
obersten und ersten: Eine heimliche Verliebtheit muss in jedem Fall und unter
allen Umständen geheim bleiben. Sternchen, Fußnote: Diese Regel bedarf keiner
Begründung. Man könnte aber eine anführen: Auf Verständnis zu hoffen ist
sinnlos. Die Beatles gingen also nicht. Y ou've
got to hide your love away.
Um es kurz zu machen: ich
entschied mich für Arnold Schönberg. Das war hochnäsig, kurzsichtig und brav.
Ich hielt mir was auf meine Lektüre zugute, denn gerade hatte ich Der Tod in
Rom von
Wolfgang Koeppen gelesen, und zwar außerhalb des Deutschunterrichts und völlig
freiwillig. Die Figur des Siegfried, der, wie ich als ambitionierte und vor dem
Nachwort nicht zurückschreckende Leserin herausgefunden hatte, Arnold Schönberg
darstellen sollte, erschien mir nicht sonderlich sympathisch, aber interessant
genug, um mir die Idee einzuimpfen, dass dieser Vortrag mir gerade recht käme,
um mein Wissen über Schönberg zu erweitern. Vielleicht war es auch so, dass mir
niemand Besseres einfiel, ich zu faul war, musikalische Lexika zu wälzen, und
mir das Buch gerade recht kam. In jedem Fall hatten mich natürlich die
dramatischen und anrüchigen Stellen gereizt, die mir hauptsächlich im
Gedächtnis geblieben waren, diese Sache mit den römischen Strichjungen und der
Konflikt mit seinem Nazi-Vater und so. Unter Zwölftonmusik konnte ich mir gar
nichts vorstellen, und das hat sich auch nicht wesentlich geändert, was auch
nicht zu erwarten war bei einer, für die schon der Quintenzirkel, der im jähr
davor von Herrn Stiehl noch pflichtschuldigst in sein Programm gequetscht
worden war, eine hoffnungslose Überforderung darstellte. Herr Stiehl, als ich
ihm meine Schönberg-Wahl kundtat, zog die Augenbrauen hoch und und seufzte:
»Na, da hast du dir ja was vorgenommen!«
»Ich weiß«, sagte ich mit
einem Anflug von Triumph in der Stimme. Dabei wusste ich nicht mehr, als dass
ich nun Gott sei Dank ein gutes Vortragsthema hatte: Herrn Stiehls musiklehrerhafte
Kritikpfeilchen würden sich so wirkungslos gegen die massive, auf hohen Felsen
thronende Burg ausnehmen, dass er gar nicht erst versuchen würde, sie zu
verschießen. Leider - oder zum Glück - hatte ich noch nicht bemerkt, dass auch
ich nicht von der Zinne hinunterschaute, sondern hinauf, aus wackliger Lage auf
bestenfalls halber Höhe.
Ein Problem waren zum Beispiel
schon allein die sogenannten Tondokumente, die wir in unseren Vortrag einbauen
sollten. In der Stadtbibliothek hatten sie natürlich nichts, geschweige denn in
der mickrigen Schulbibliothek. Also blieb mir nichts anderes übrig, als Herrn
Stiehl selber zu fragen. Er grinste, glubschte mich durch
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