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Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
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generell wird er
seit mehreren Generationen, und es sollte mich nicht wundern, wenn sogar
einige Lehrer darunter wären, nur entweder »Stengel« oder »Rumpelstiehlzchen«
genannt. Ein Kuriosum, an das sich aber alle bereits bis zum Überdruss gewöhnt
haben, ist, dass er stets »Schtiel« sagt, wenn er von >Stil< spricht,
entweder merkt er es einfach nicht, oder er macht es extra, weil er das am Ende
überaus witzig findet, beides ist ihm zuzutrauen. Tatsächlich scheint er aber
auch eine besondere Vorliebe für das Wort zu haben; wenn ihn zum Beispiel der
Tonfall eines Schülers den nötigen Respekt vermissen lässt, sagt er: »Nicht in
dem Schtiel, mein Freund!« Es geht die Legende, dass ein Schüler mal in einer
Arbeit das Wort >Stil< konsequent durch das Wort >Stengel< ersetzt
haben soll: Der Stengel dieser Sinfonie ...
    Unser Rumpelstiehlzchen nun
hatte ein bisschen gebraucht, dann aber erkannt, dass sich mit dieser einfachen
Replik, »sing doch selber«, die Disziplin in der Klasse schlagartig wiederherstellen
ließ. Seitdem setzte er dieses erstaunlicherweise immer wieder effektive Mittel
ständig und völlig unvariiert ein, denn auch die Jungs wichen kein bisschen von
ihrem Verhaltensmuster ab, aber sie sind bekanntlich auch nicht die Hellsten,
und schon gar nicht die Größten, noch nicht mal für ihre mühsam ergatterten
Freundinnen, die sich nervös nach jedem Autotürklappen auf dem Schulparkplatz
umdrehen, weil eine andere vielleicht einen besseren Fang gemacht hat und also
jetzt einem Auto entsteigen kann, mit dem sie von einem Typen-mit-Auto
vorgefahren wurde. Nur ein weiteres Muster. Bis dann mal einer, Ronny, als er
von Herrn Stiehl wieder mal zum Vorsingen aufgefordert wurde, zu eben Herrn
Stiehl sagte: »SDS!«, worauf Herr Stiehl, nicht der Hellste, ihn verständnislos
anguckte, worauf Ronny sich zur ausführlicheren Variante aufschwang: »Sing
doch selber!«
    Da sage noch einer,
interdisziplinäres Lernen fände an der Schule nicht statt. Ich nahm es als
anschauliches Beispiel für das, was uns in Biologie als Evolution nahegebracht
worden war. Damit war Herrn Stiehls Unterricht eigentlich dem Untergang geweiht.
Aber auch er entschied sich, wahrscheinlich instinktiv, für eine Anpassung an
die neuen Umstände und unterbreitete uns zum Ende der Zehnten, dass die letzte
Singekontrolle zugunsten eines Vortrags mit selbst zu wählendem Thema wegfallen
würde. Wahrscheinlich glaubte er sogar, damit einige wankelmütige Seelen in
seinen Kurs für die Elfte und Zwölfte hinüberretten zu können. Mehr
Willensfreiheit, weniger Prädestination. Ich habe Musik abgewählt. Ich will
nicht behaupten, dass es mit diesem Vortrag zusammenhing, ich hatte mich
sowieso schon für Kunst entschieden. Das ist nicht so von vornherein zum
Scheitern verurteilt, da kann man immer irgendwas zusammenschmieren und es
dann als originell beurteilen lassen. Das haben sich die meisten Jungs übrigens
auch gedacht. Womit ich natürlich nicht sagen will, dass ich irgendwas
zusammenschmiere.
    Jedenfalls, Herr Stiehl
postulierte, er wolle uns alle Freiheiten lassen, als Übung für selbständiges
Arbeiten in Vorbereitung auf die Abiturstufe und blabla, als großes Thema gebe
er lediglich vor: »Revolutionen in der Musik«. Wenn überhaupt an irgendwas,
dachten wahrscheinlich alle zuerst an die Französische Revolution und so was
wie: nicht schon wieder! Aber dann dämmerte uns, dass es vielleicht mehr um
musikalische Revolutionen ging, Herr Stiehl in seltener Verschlagenheit enthielt
sich jeglichen Kommentars. Ich hatte keine Ahnung von Musikgeschichte, was
hauptsächlich daran lag, dass es das erste Mal in all den Jahren nicht enden
wollender Musikstunden war, dass die überhaupt »aufs Trapez« kam, wie Mama
manchmal sagt. Sie lächelt dann, weil sie ja weiß, dass es nicht so heißt, aber
nicht genau, wie es denn heißt. Zuerst wusste ich es auch nicht, dann wusste
ich es irgendwann und hab sie berichtigt, sie hat es sich aber nicht gemerkt,
dann habe ich gemerkt, dass sie das offenbar auch gar nicht will, dann habe ich
aufgehört, sie zu verbessern, zuerst aus Trotz und so einem Na-ich-weiß-jedenfalls-wie-es-richtig-heißt-Überlegenheitsgefühl,
inzwischen aber auch, weil ich es eigentlich ganz gerne höre, wenn sie es sagt.
Ich glaube, das ist der einzige Fall. In dem die Toleranz über das Verlangen
siegt, die hochgekrempelten Zehnägel mit Gegengewalt wieder geradezubiegen. Zum
Beispiel Tante Elke und Tante Marlies mit

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