Zander, Judith
seine dicke
Hornbrille an, sagte: »Na, hast wohl nix gefunden, wa?«, obwohl ich ihm genau
das ungefähr fünf Sekunden vorher mitgeteilt hatte, und bestellte mich für
nach der sechsten Stunde in seinen Musikraum.
Mir war den ganzen Tag nicht
wohl bei dem Gedanken. Mit einem mulmigen Gefühl stieg ich um eins die dunklen
Treppen rauf; der Musikraum liegt in einem efeubewachsenen Seitenflügel, in
dem nur noch ein weiterer Raum für Unterricht genutzt wird, früher diente er,
glaube ich, als Internat. Eigentlich schön, besonders der große Balkon, zu dem
vom Musikraum eine Tür führt, fasziniert mich, wir dürfen aber nicht rauf, aus
irgendeinem willkürlichen Schulverbotsgrund, den wir hinnehmen wie alles
Schulisch-Unbegreifliche, die Schule wäre ja nicht mehr die Schule, würde sie
plötzlich dem Rechtfertigungszwang des wahren Lebens unterliegen. Wir würden
uns ganz schön verloren vorkommen, glaube ich.
Es war heiß an dem Tag, alle
schienen nach dem Schlussklingeln so schnell es ging geflohen, denn das ganze
Gebäude und der Schulhof waren plötzlich menschenleer, kein Blatt regte sich in
der staubtrockenen Luft, und bloß ich schlich noch umher und irgendwo -
hoffentlich, hoffentlich nicht - Herr Stiehl. Ich hatte Durst, seit Stunden.
Und das kam bloß daher, weil Katharina in ihrer üblichen Dreistigkeit mich
gefragt hatte, ob ich was zu trinken hätte, »Ey, Romy, haste was zu trinken?«,
und ich in meiner üblichen Schüchternheit, die die Lehrer für Höflichkeit und
Hilfsbereitschaft halten, mich nicht getraut hatte, Katharina den Inhalt meiner
Flasche vorzuenthalten, und Katharina mit Hilfe ihrer Dreistigkeit diese bis
auf den letzten Tropfen ausgeschlürft hatte, nicht ohne zwischendurch
angewidert zu bemerken: »Das is ja Pfefferminztee!« Wahrscheinlich war das ein
hinreichender Grund für sie, mich weiterhin mit Verachtung zu strafen, nach dem
Motto: Wer Pfefferminztee trinkt, kriegt doch nie einen ab. Und wahrscheinlich
wäre es aussichtslos, Katharina den Unterschied zwischen Kausalität und
Koinzidenz erklären zu wollen.
Das kühle, kellerdunkle
Treppenhaus hätte ich als Erleichterung empfunden, wäre ich nicht mit jedem
Schritt einem kleinen, bebrillten Monstrum nähergekommen. Als ich vorsichtig
den Musikraum betrat, war er leer. Das Sonnenlicht fiel grünlich durch die
alten Fenster, es war stickig, obwohl die Tür zum Balkon offen stand. Offen
stand wie eine einzige Versuchung. Das ist die Gelegenheit, dachte ich. So
geräuschlos wie möglich ging ich darauf zu. Ich weiß auch nicht, was ich mir
eigentlich davon versprach, davon, endlich diesen Balkon zu betreten. Er würde
ja nun nicht gerade unter meinem unwesentlichen Gewicht zusammenbrechen. Was
ich allerdings nie erfahren sollte. Denn kaum hatte ich die Balkontür erreicht,
beinahe schon berührt, erscholl Herrn Stiehls Stimme vom anderen Ende des
Raumes her: »Na, da bist du ja endlich!«
Ich fuhr wirklich ein bisschen
zusammen, wie ertappt, aber Herr Stiehl interessierte sich gar nicht für mein
verbrecherisches Vorhaben, sondern nur für meine nicht existente Verspätung,
anscheinend wollte auch er so schnell wie möglich hier raus. Gut, dachte ich,
in spätestens fünf Minuten hast dus überstanden.
»Komm ma mit«, sagte Herr
Stiehl, und während ich noch kurz und instinktiv zögerte, ihm zu folgen, wurde
er auch schon wieder ungeduldig: »Na los, nu komm schon!«
Übrigens fällt es Herrn Stiehl
nie ein, uns etwa zu siezen, was anscheinend auch keinem von uns komisch
vorkommt, würde er es tun, wäre die Irritation größer. Er verschwand durch eine
kleine, ins Dunkel führende Tür neben der Tafel, und ich trabte ihm wohl oder
übel hinterher. Mir schossen sämtliche Gerüchte, die ich jemals über Herrn
Stiehl gehört hatte, durch den Kopf, die allesamt darin kulminieren, dass er
»mal was mit einer Schülerin gehabt« haben soll, vor ewigen Zeiten, als sogar
Mama noch zur Schule ging, die ihm mal bei einem Ausflug verschiedener Chöre
begegnet war und daher meine Vorbehalte gut verstehen kann; als ich ihr
erzählte, dass wir Herrn Stiehl in Musik kriegen, war sie geradezu entsetzt,
was mir zu denken gab. Auf diesem Ausflug mussten sie in einer Scheune im Stroh
schlafen, und ausgerechnet Herr Stiehl hatte sich neben Mama gelegt, »mit
Absicht«, wie sie anmerkte, ohne näher zu erklären, worin genau diese Absicht
ihr gegenüber bestanden hätte. »Na ja!«, sagte sie bloß, als ich sie fragte,
und er habe sich bis auf
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