Zander, Judith
klang fast wie ein Schmatzen, wenn die durchgeblätterten CDs
aneinanderklatschten. Mein Eindruck, hier quasi in seine Privatgemächer
eingelassen worden zu sein, bestätigte sich, als mein Blick auf ein
schmutzigweißes Unterhemd fiel, das schlaff über einer Stuhllehne hing. In
diesem Halblicht konnte ich es nicht erkennen, aber ich vermutete, dass Herrn
Stiehls beigefarbenes Hemd ausufernde Schweißflecken unter seinen Achseln
aufwies, der ganze Odor dieses engen Kabinetts sprach jedenfalls dafür. Es
dauerte eine Weile, bis Herr Stiehl fand, was er suchte, und ich hegte schon
die Befürchtung, dass er gar nicht genau wüsste, ob er überhaupt etwas für mich
hätte, und ich am Ende umsonst hergekommen wäre. Dann drehte er sich plötzlich
um und ließ mir seinen kurzen Arm entgegenschnellen, »Da!«, von dessen
knorpeligem Ende ich eine CD pflückte.
Es waren Klavierwerke von
Schönberg, mehr hätte er nicht. »Danke«, sagte ich. Ob ich damit was anfangen
könne, fragte er. Ich wusste nicht genau, was er meinte: Ob mir Schönbergs
Musik gefalle, so im Allgemeinen? Oder ob ich es für den Vortrag gebrauchen
könne? »Ich hoffe es«, sagte ich und hoffte, dass ich mich für die richtige
Interpretation seiner Frage entschieden hatte und sie keine weiteren nach sich
zöge.
»Vielen Dank«, schabte ich mir
noch mal wie Belag von meiner klebenden Zunge und betrachtete das schon als
Einleitungsworte zu meinem Abgang, als er sagte: »Wart ma. Ich hab noch was
für dich.«
Oh nein, dachte ich, nicht
das. Ich hatte schon von seiner Angewohnheit gehört, Schülerinnen manchmal
Süßigkeiten zu schenken, irgendwelche backsigen Bonbons und Schokoladenostereier
kurz vor Weihnachten, die er hier offenbar hortete, und fast erwartete ich,
dass er in seine Hosentasche greifen und etwas daraus hervorziehen würde. Schon
allein der Gedanke daran verschärfte meinen Durst gleich noch mal um mindestens
fünfzig Prozent. Aber er verschwand um die Ecke und kam wieder mit zwei
Büchern, das eine sei für mich, »und das andre gib ma Anita!«.
Damit war ich entlassen. Meine
innere Verfasstheit besserte sich entsprechend meinem Rückweg in Stufen:
Zunächst, als ich wieder in den Musikraum trat, wurde es heller und mir damit
schon wesentlich lichter zumute, danach, auf der kühlen Treppe, verlor sich die
drückende Luft und ein wenig die Unerträglichkeit meines Durstes, draußen
endlich umfing mich die Frühsommerluft, die Geräusche der Wirklichkeit drangen
an mein Ohr, und froh schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr nach Hause.
Ach, jetzt hör auf, Romy. Das
taugt ja doch nicht für eine Geschichte.
Und ganz wahr ist es auch
nicht. Denn noch bevor ich aus dem Musikraum raus war, hatte ich natürlich
einen Blick auf die beiden Bücher geworfen. Das eine trug den Titel Komponisten
des zwanzigsten Jahrhunderts . Das andere diesen: Yesterday. Wie
die Beatles die Welt veränderten . Begossener Pudel ist gar kein Ausdruck, so wie ich
die Treppe runterschlich. In mir sofort das starke, gerechte, ohnmächtige
Gefühl, dass hier ein Irrtum vorliegen müsse. Wie im Märchen, dachte ich, oder wars
in der Bibel, in irgendwelchen Sagen, gab es nicht solche Geschichten, in denen
der Held, die Heldin einer schrecklichen Verwechslung unterliegt, und erst am
Ende wird die wahre Natur aller Beteiligten offenbar? Aber mir fiel kein einziges
Beispiel ein, nur an Allerleirauh musste ich plötzlich denken, das
Mäusepelzchen. Aber es wollte nicht auf Anita passen, hinter deren
Trampelhaftigkeit sich - ja, was verbarg? Doch nicht etwa eine Vorliebe für die
Beatles. Das konnte einfach nicht sein.
Ich hatte sofort Herrn Stiehl
im Verdacht. Anita war fast zwei Wochen krank gewesen und fiel bei ihrer
Rückkehr aus allen Wolken, als sie von dem anstehenden Vortrag erfuhr, denn
keiner hatte auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass man ihr diesen
Umstand vielleicht mitteilen müsste. Zwar wurde irgendwer abbeordert, ihr die
Hausaufgaben zu bringen, und zum Glück hatte es nicht mich getroffen, sondern
Linda, die auf die Schnelle nun nichts daran zu ändern vermochte, in der
geringsten Entfernung zu Anita zu wohnen, nämlich im selben Aufgang, aber
auch Linda verschlampte Herrn Stiehls »Übung zur Selbständigkeit« komplett, was
man ihr nicht verübeln konnte, da Musik in unser aller Bewusstsein den denkbar
niedrigsten Stellenwert einnahm, immer hart an der Grenze zur Verdrängung. Und
so hatte Herr Stiehl wohl Erbarmen mit Anita gehabt und ihr
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