Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
Vom Netzwerk:
schenktest es ihm. Du
hattest gehört, es solle schwierig sein. Du aßt Michaels Brot und Michaels Suppen
und fragtest ihn, warum er es nicht lese. Du hättest deinen »last penny« dafür
gespendet. Warum er denn überhaupt so einen Scheiß wie Germanistik studiere. Wo
einem doch am Ende nur noch Goethe überall rausläuft, wo man nur noch Goethe
sabbert und nach Goethe stinkt, pfui Deibel. Michael tat so, als hätte er nicht
alles verstanden. Er sagte, dass W ilhelm M eister ihn genug beschäftige. Da
könne er sich nicht noch M utmassungen »about some J akob « leisten. Er fragte dich, ob das hier eine Landschaft
sei. Eine halbe Stadt mit ein paar »trees at the fringe«. Er fragte, wo du
später arbeiten wolltest. Du sagtest, du wolltest keine Ponyfrisur. Er lachte.
    Zwei Jahre später standest du
heulend zwischen den englischen Baumfransen. Schwanger. Dieses Kind würdest du
behalten, so viel war klar. Es war euer Kind. Ingrid war seine Mutter und
Michael sein Vater. Ingrid Ishley.
    Du stürztest dich in die
Gärten. Du dachtest nicht darüber nach, was dir an dieser Inszenierung von
Natur lag. Ob das eine Landschaft war. Die Gärten gefielen dir einfach, und das
war etwas in dieser Zeit. Ein Gefühl so gut wie neu. Manchmal verreistest du
für ein paar Tage. Die Bücher nahmst du mit, dein Notizheft, ein wenig
Proviant. Dein Bauch hielt den schweren Rucksack im Gleichgewicht. Wenn du,
nicht selten durchnässt, immer hungrig, am Abend in dein B&B-Zimmer kamst
oder, wenn du nur in der näheren Umgebung geblieben warst, in den kleinen,
halbvergessenen Gärten Norfolks, zu Michael in die Wohnung, fühltest du dich
wie ein aus seinen Diensten entlassener Einsiedler. Es schien dir merkwürdig,
die Länge deiner Haare und Nägel unverändert zu finden. Nur dein Bauch wuchs.
Du dachtest: Er wächst, immer weiter. Du wusstest nicht genau, wen du meinst
mit >er<.
    Einmal rutschtest du in einen
Ha-Ha und knicktest dabei mit dem Fuß um. Du kamst nicht mehr raus. Du warst
allein weit und breit. Der schlammige Grund schmatzte, als du versuchtest
aufzustehen. Du aßt einen Apfel. Eine Weile lehntest du an der steilen Wand
dieses ungewöhnlich tiefen, aber ohne Steine angelegten Gartenkunstmittels,
bis du wieder zurücksacktest, nachgabst. Du musstest das Kind eben in
instabilen Verhältnissen gebären. Ha ha, dachtest du, und die Frage, woher
diese unsichtbaren Gräben ihren Namen haben, beantwortete sich plötzlich von
selbst. Als Einsiedler durfte man natürlich kein Kind haben. Jedenfalls nicht
offiziell. Du fingst an, nach Michael zu rufen, es klang besser als
>Help!<.
    Nach Minuten oder Stunden
sahst du einen Jungen über dir stehen. Er legte sich auf den Boden und hielt
dir seinen Ledergürtel hin. Du bandest deinen Rucksack dran. Gern hättest du
auch deinen Bauch abgeschnallt. Der Junge war vielleicht zwölf oder dreizehn
Jahre alt, aber er schaffte es, dich an dem Gürtel ein Stück hochzuziehen, dass
du mit der Hand ein Grasbüschel ergreifen und mit dem unverletzten Fuß einen
prekären Halt finden konntest. Du stemmtest dich hoch, der Junge half dir,
zerrte an dir mit einer ausdauernden Kraft, zerriss dabei deinen Anorak und
entschuldigte sich. Er trug geduldig deinen Rucksack neben dir her, als du in
kleinen Schritten zum Ausgang humpeltest. Er wartete mit dir auf den Bus. Du
fragtest nach seinem Namen. Er sagte, er heiße Paul William Herrington, »like the
fish, you know«. Du gabst ihm, was du noch an Geld bei dir hattest. Die Wehen
setzten im Morgengrauen ein, fast einen Monat zu früh. Paul wurde in einem
Krankenhaus in Norwich geboren.
    In Kinsale, in Irland, in
einem Haus, vor das du noch nicht das Wort >dein< zu setzen wagtest,
erreichte dich zehn Jahre und einen Tag später der erste Brief von Peter. Du
sahst ihm sofort die zahllosen Anläufe an. Die Handschrift war gleichmäßig,
ohne Fehler oder Verbesserungen, und die Absätze - schon allein, dass es welche
gab - passten nicht recht zusammen, schienen Konzentrate von im Laufe der Zeit
entworfenen und wieder verworfenen Briefen zu sein. »Jetzt, wo es geht«,
schrieb Peter. Es gelang dir nicht herauszufinden, worum es ihm ging. Du
stelltest dir vor, Peter hätte bis jetzt gebraucht, um deine Adresse herauszufinden,
sich deiner Anwesenheit im selben Raum-Zeit-Kontinuum zu versichern. Es
erschreckte dich. Dass das immer noch ging. Dass es so etwas wie Peters
Anwesenheit gab. Adressen. Die grundsätzliche Erreichbarkeit, sofern in
siebzehneinhalb Jahren

Weitere Kostenlose Bücher