Zander, Judith
Zustandes unhöflich fandest.
»Frollein Hanske, ick sag nur, det wart, Sie wissen Bescheid!«
Du versuchtest, noch schnell
aufzulegen, bevor du auf das Telefon kotztest. Sowieso, dachtest du. Du warst
gestorben, und zwar für jeden. Da sollte der Cafe-Kröske sich mal nichts einbilden.
Du gingst wieder ins Bett. Aber das Bett gehörte zur Wohnung, und die Wohnung
gehörte deiner Vermieterin, und die wollte bald vertröstet sein über die bis
auf Weiteres ausbleibende Miete. Mehrmals klingelte es, aber du öffnetest
nicht. Du fingst an, wieder rauszugehen. Aber nur nachts, und nirgendwohin.
Einmal sprach dich ein Mann an, und du nahmst ihn mit, weil du an die Miete
dachtest, aber dann sagtest du vor der Haustür zu ihm, es ginge doch nicht. So
viel würde er nie rausrücken. »Ick habe Geld dabei«, sagte er empört. Aber nicht genug. Und du
wolltest nichts einreißen lassen. Was war jetzt mit diesem Ziel.
Du strichst um dein Ziel
herum. Du wolltest nichts, gar nichts, aber die Langeweile machte dir zu
schaffen. Du last die wildwuchernden Aushänge, aus Langeweile, eine WG wolltest du erst recht nicht.
So einen kleinen, durchorganisierten Puff. B otanischer G arten , hieß nicht eine Haltestelle so? H ilfsarbeiten . Vermutlich schlecht bezahlt.
Aber das Bild von Pflanzen legte dich nicht sofort lahm, also fuhrst du hin.
Dort kamst du dir wieder dumm vor; du warst die erste und einzige Bewerberin,
schienst aber nicht sonderlich willkommen zu sein. Vielleicht sahen sie dir
etwas an. Vielleicht dasselbe, was du sahst, wenn du zufällig in einen Spiegel
gucktest.
Man gab dir eine Aufgabe, das war
gut, aber du konntest hören, dass es eine war, vor der man sich besser
drückte. Es würde nicht gerade der Kuhstall sein. Es war ein Gewächshaus. O puntia stand auf den Schildern dieser
platten Kakteen. Du musstest fast weinen, sie rührten dich wie Tiere. Stolz
und wehrlos, nur einige hatten lange, einzelne Stacheln, die Handschuhe, die
man dir gegeben hatte, erschienen dir übertrieben wie eine Waffe. Opuntia
hatte abgeblüht und musste umgepflanzt werden. Ihre matte Oberfläche wirkte wie
Haut, nur schöner, blaugrün. Du strichst mit der flachen Hand über die kleinen
bräunlichen Samtbüschel. Du sahst deinen Fehler sofort ein. Das war ein
richtiger, eindeutiger Fehler, dachtest du. So haben Fehler zu sein. Sie müssen
sofort weh tun. Winzige, nicht entfernbare Stachelhärchen. Wiederholung
unnötig. So was war Liebe. Du warst ihnen nicht böse. Du liebtest sie schon.
Du warst allein. Die ganze
Zeit über hatte der Gedanke, kaum jemanden zu kennen in der ganzen halben
Stadt, von kaum jemandem gekannt zu werden, mit keinem hier verwandt zu sein
und überhaupt schwer erreichbar in dieser Enklave, Exklave, dir große
Befriedigung verschafft. Sie steigerte sich zur Euphorie, als du vor dem
Sekretariat der Uni mit wohl hundert anderen Leuten darauf wartetest, zur Einschreibung
vorgelassen zu werden. Auf einmal fiel dir dein Vater ein, und der Gedanke
kränkte dich. Er zerstörte deine Absolutheit. Dein Vater war tot, ja, aber er
war hier.
Er befand sich in einer Urne
auf dem Städtischen Friedhof Reinickendorf, so viel wusstest du. Du warst nie
dort gewesen, fuhrst auch jetzt nicht hin, obwohl du nur ein paar
U-Bahn-Stationen entfernt wohntest. Du fühltest, dass das undankbar sein
musste. Aber Dankbarkeit war eben auch etwas, was du endlich loswerden
wolltest. Ein besonderes Talent dazu hattest du ohnehin nie gehabt. Und schien
in diesen Westberliner Tagen nicht alles eine Frage des Talents? Das ersetzte
dir einiges, andere Wörter, >Veranlagung<, >Potential<, und das Leben
war schließlich kein Entwicklungsroman, oder? Ach, hör auf, das Wort kanntest
du da noch gar nicht. An der Beisetzung hattest du nicht teilgenommen. Du
warst erst am selben Tag angekommen, noch rechtzeitig, aber du konntest den
Friedhof nicht finden, verfuhrst dich, sprachst niemanden an, ein Taxi
trautest du dich nicht zu nehmen, aus Angst, es verschlänge sofort einen
Großteil deiner Ersparnisse. Dann war es dir plötzlich egal. Du standest mitten
auf einer Kreuzung, es muss irgendwo in Schöneberg gewesen sein, völlig falsch.
Du fragtest dich, was gewesen wäre, wenn dein Vater lieber heilen Leibes unter
die Erde gekommen wäre, wenn die Behörden nicht anderthalb Wochen Zeit zum
Vertrödeln gehabt hätten. Ständest du dann hier? Diese Frage schien dir so
wichtig, dass sie dich paradoxerweise die Wichtigkeit der Beerdigung nicht
länger
Weitere Kostenlose Bücher