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Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
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einsehen ließ. Du standest hier, und nur das zählte. Das war nicht so
opportunistisch, wie es aussah. Erst da wurde dir nämlich klar, dass dein Vater
tot war. Toter als tot. Dass er ja nie gelebt hatte, nicht für dich. Also was
solltest du auf dieser Trauerfeier. Schließlich war er nicht für dich
gestorben. Du hattest gar nicht gemerkt, wie sich im Laufe der Zeit Gleichungen
zwischen euch aufgestellt hatten, ein ganzes Gleichungssystem, und als es dich
eines Tages schrecklich wie in einer Mathearbeit anflimmerte, konntest du nicht
überblicken, ob es mehr Gleichungen als Unbekannte waren oder umgekehrt. Sicher
war nur, dass es entweder keine oder unendlich viele Lösungen gab.
    Was deine Mutter betraf, so
wagtest du dich nicht mal an eine Ungleichung. Auf welche Seite du dich auch
geschrieben hättest, das Zeichen wäre doch immer auf dich gerichtet gewesen.
Und so eine Selbstgerechtigkeit untersagtest du dir. Selbstmitleid, meinst du.
Du hattest dich entfernt aus diesem System. Es musste doch verschiedene geben,
wie in der Musik. Naturgesetze, ja doch, mein Gott. Dann musste es eben
verschiedene Naturen geben. Zumindest war euch beiden das Gleiche klar,
klargewesen schon, als du ihr sagtest, du würdest den Antrag stellen. Klargewesen
auch, als du die Papiere erhieltst: Du durftest fahren zur Beerdigung eines
Angehörigen ersten Grades, aber nur du, allein, ohne Angehörige welchen Grades
auch immer. Ein Rückholbändchen, das fast sofort riss.
    So eine Klarheit. Die wollte
dir später nie wieder gelingen, du verzehrtest dich nach diesem Gefühl, das
dich an jenem Morgen aufspannte wie ein Segel, als du heraustratest in die
tonlose Februardunkelheit. Du hattest niemanden geweckt, aber dann stand Anna Hanske
doch in der Tür, du hattest nicht daran gedacht, dich nicht umzudrehen. Und da
sahst du es ihr klar und deutlich an: dass du diesen Weg nicht zurückgehen
würdest. Vielleicht stimmt es nicht, aber dir war, als wüchse dir erst in
diesem Augenblick die letzte Entschlossenheit zu. Deine Tasche war klein,
wirkte unverdächtig. Nur zwei oder drei ließen sich nicht täuschen. Du sahst
nicht zu dem kleinen Fenster hoch, obwohl du wusstest, dass dort kein Winken
sein würde.
    Es kam dir wie eine
Verabschiedung vor, als der blasse, nicht sehr große Junge, >Mann<
konntest du nicht denken, dir über den nun leeren Platz hinweg zuwinkte. Die
anderen waren wieder verschwunden, in ihren Betten und Angelegenheiten, wie mit
der Nacht zurückgesaugt, abgesaugt von dir, und der sich dort nur dank seiner
schwarzen Jacke und seiner fast ebenso schwarzen Haare deutlich von der grauen
Fassade hinter ihm abhob, überscharf fast, dessen weißes Gesicht sich in der
Milchfarbe des Himmels aufzulösen drohte, der da an seiner flatternden Hand
hing wie ein Trauerflor, den der Januarwind gleich abreißen und zusammen mit
den über den Platz treibenden schmutzigroten Pappröhrchen davonwehen würde,
schien dir auf unbegreifliche Weise über alle Wahrscheinlichkeiten erhaben, als
er auf dich zustakste, eine tapfere kleine Elster. Du bliebst einfach schief da
stehen. Dir war, als flösse Niederprozentiges durch deine Adern, klebrige
Liköre. Als er dich fast erreicht hatte, als du sicher sein konntest, nicht
mehr missverstanden zu werden, winktest du zurück, weil dir plötzlich sein
Name wieder einfiel.
    »Hallo. Ingrid«, sagte ein
blaugefrorener Mund. »Wie schön.«
    Du begriffst einen Augenblick
nicht, dass der Satz schon zu Ende war. Er gab dir nicht die Hand. Er stand
direkt vor dir.
    »Hallo. Michael.«
    Er nickte, als ob du etwas
richtig gemacht hättest. Du versuchtest dich zu entscheiden, ob seine Augen
braun oder grün waren, denn hinsehen konntest du nicht. Du versuchtest dich zu
erinnern, ob du in der Nacht mit ihm geknutscht hattest, in der lauten Nacht,
eingekeilt zwischen Mänteln, Haaren, Kotze und Knallern, Herren- und
Heimatlosen, Kommilitonen, euren, und ob es noch im alten oder schon im neuen
Jahr gewesen war. Das war doch wichtig. Du versuchtest, freundlich zu sein.
    Du konntest ihn lange nicht richtig
anfassen.
    Es kam dir nicht richtig vor.
Er war doch ein Fremdling in deiner Sprache. Du glaubtest, er würde alles
falsch verstehen. Du würdest alles erklären müssen. Du glaubtest, er könne das
nicht lernen: akzentfrei mit dir zu reden. Wenn es schon sonst keiner konnte,
nicht wahr. Du fingst an, dein Englisch auszubessern.
    Eine Probe: Für dieses Buch
hattest du gerade noch genug Geld. Du kauftest es und

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