Zara von Asphodel - Rebellin und Magierin: Roman (German Edition)
Göttern sei Dank, dass wir den Jungen geholt haben. Sonst wären wir bereits auf dem Weg zum Dach und leichte Beute.
Ich schließe die Finger um den Griff des Schwerts, spüre das Gewicht des Giftfläschchens auf meiner Brust. Beschütze uns, Zeit, flehe ich die Göttin in dem Wissen an, dass der Tod nur eine Armlänge entfernt lauert. »Es gibt Schlimmeres«, flüstere ich lautlos. Was vielleicht stimmt, meine Angst aber nicht mindert.
»Jetzt«, raune ich und gebe den anderen ein Zeichen, mir zu folgen.
»Warte!« Twiss, die wie eine Katze kurz vor dem Sprung neben mir kauert, greift nach der Schwertscheide. »Gib es mir, Zara! Wenn es zu einem Kampf kommt, kannst du deine Magie benutzen. Du wirst Bruins Schwert nicht brauchen.«
In ihren Augen brennt ein Hunger, der aus den Tiefen ihrer Seele kommt: der Hunger zu töten. Ich zögere. Tabitha hat Bruins Schwert mir anvertraut. Doch Twiss hat recht, ich habe keine Verwendung dafür. Dennoch sträubt sich etwas in mir dagegen, diesem Kind dabei zu helfen, erneut zur Mörderin zu werden. Närrin! Wir leben in einer Welt, in der sie nie eine Chance hatte. Ein sanftes Gemüt würde vielleicht lieber sterben, als zu töten. Aber Twiss ist kein sanftes Gemüt. Genauso wenig wie ich. Ich habe mich verändert. Würde ich Aluid heute Nacht begegnen, ich würde ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, töten. Ich bin nicht stolzdarauf – das Leben und die Zeit haben einen neuen Menschen aus mir geschmiedet.
Ich schnalle die Scheide ab und reiche der Diebin das Schwert. Sie legt es sich so geschickt um, als hätte sie es oft geübt. Und da weiß ich, dass sie dieses Schwert bereits getragen hat, dass sie es in der Hand gehalten und sich danach gesehnt hat, es dafür zu benutzen, wozu es bestimmt ist. Ich fürchte, dass sie die Gelegenheit dazu bekommen wird, noch bevor die Nacht zu Ende ist.
Aidan tritt ungeduldig von einem Bein aufs andere. Im Gegensatz zur Todesangst des Jungen wird Aidans Furcht von dem ungestümen Verlangen überlagert, etwas zu tun. Er sieht mich durchdringend an. Ich nicke und Twiss öffnet die Tür und geht voraus. Aidan folgt ihr mit dem Jungen auf den Armen.
Ich kehre ins Anderswo zurück und schließe die Tür hinter uns, verlasse mich jetzt wieder ganz auf meine Sinne als Diebin. Es sind zu viele Großmeister in der Nähe, um Magie zu benutzen.
Wir huschen die Stufen bis zum Eingang hinunter, der zum Glück nicht von Magiern, sondern lediglich von einer Tributin bewacht wird. Aidan entdeckt sie im selben Moment wie ich und bleibt stehen. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn wissen zu lassen, dass wir bei ihm sind, und drehe mich dann zu Twiss um – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass sie im Begriff ist, Bruins Schwert aus der Scheide zu ziehen. Sie funkelt mich wütend an, als ich ihren Arm festhalte, aber ich schüttle den Kopf. Ich werde keine Tributin töten, es sei denn, ich habe keine andere Wahl.
Twiss verdreht die Augen, steckt das Schwert wieder weg, holt stattdessen ihren Kampfstock hervor und streckt ihn mir mit einer fragend hochgezogenen Braue hin.
Ich nicke. Auch wenn ich der Wächterin die Schmerzen gern ersparen würde und wir uns beeilen müssen, wäre es zu gefährlich, Magie dafür einzusetzen, da mein Vater ganz in der Nähe ist.
Twiss schleicht sich so unbekümmert an die Wächterin heran, als würde sie mit ihrer Bande von Halblingen durch die Katakomben ziehen. Die Tributin ist ungefähr in meinem Alter, vielleicht sogar jünger. Twiss hebt den Stock und lässt ihn kraftvoll auf ihren Hinterkopf niedersausen. Das dumpfe Aufprallgeräusch lässt mich zusammenzucken, als hätte ich selbst die Wucht des Hiebs zu spüren bekommen. Die junge Frau kippt vornüber und sackt zu Boden.
Twiss steigt wie eine langbeinige Katze über sie hinweg und wir folgen ihr, zuerst Aidan mit dem Jungen, dann ich.
Der Hof liegt wie ein Spielbrett aus scharf gezeichneten Schatten da. Twiss ist bereits dabei, ihn zu überqueren. Auf der anderen Seite angekommen, macht sie sich eilig daran, das Schloss des bodentiefen Palastfensters zu öffnen, das offensichtlich wieder verriegelt wurde, nachdem wir vorhin dort hindurchgeklettert sind. Für einen Dieb ist der Hof ein Kinderspiel, aber Aidan und der Junge können ihn nicht ungesehen und ungehört überqueren.
Ich schiebe ihn in die schützende Dunkelheit einer Säule. Er schüttelt unwillig meine Hand ab und beginnt wie ein Straßenballspieler von Schatten zu Schatten zu
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