Zauber der Begierde
das
schmerzlich ihr Begriffsvermögen überstieg. In letzter Zeit empfand Adrienne
es eher als überraschend, wenn die Dinge einen Sinn ergaben, als wenn sie es
nicht taten - zumindest befand sie sich auf heimischem Terrain, wenn ihr Leben
eine sonderbare Entwicklung nahm. Obwohl es höchst unlogisch und zutiefst
unwahrscheinlich war, ließen sich all ihre fünf Sinne nicht davon abbringen,
daß sie sich, um die kleine Alice zu zitieren, nicht mehr in Kansas befand.
Der
Schimmer einer Erinnerung fuhr ihr durch den Kopf... Was hatte sie noch getan,
kurz bevor sie sich auf Comyns Schoß wiederfand? Die Stunden davor waren
unscharf, vage. Sie konnte sich an das unangenehme Gefühl erinnern, beobachtet
zu werden... und sonst? Ein merkwürdiger Geruch, intensiv und würzig, der ihr
in die Nase gestiegen war, bevor sie... was? Adrienne gab sich alle Mühe, den
Schleier der Verwirrung zu durchstoßen, doch sie erreichte nur, daß ihr der
Schädel brummte.
Sie
kämpfte eine Zeitlang dagegen an, dann ergab sie sich dem Schmerz. Adrienne
murmelte ein inbrünstiges Gebet, daß die höhere Logik hinter dieser
irrationalen Wirklichkeit sie mit mehr Wohlwollen behandeln möge als das
Schicksal, das sie auf Eberhard hatte treffen lassen.
Zu
schade, daß sie nicht einige jener wirklich und wahrhaftig üblen Erinnerungen
verloren hatte. Doch nein, nur ein paar seltsame Stunden; eine kurze
Zeitspanne. Vielleicht dämpfte der Schock dessen, was passiert war, momentan
ihr Erinnerungsvermögen. Wenn sie sich erst einmal an diese neue Umgebung
angepaßt hatte, würde sie bestimmt dahinterkommen, wie sie es fertiggebracht
hatte, durch die Zeit zu reisen. Und wie sie wieder zurückkommen könnte.
Dann aber fragte sie sich, ob
sie wirklich zu dem, was sie hinter sich gelassen hatte, zurückkehren wollte.
Am nächsten Morgen spritzte sich
Adrienne eiskaltes Wasser ins Gesicht und taxierte sich in der verschwommenen,
polierten Silberplatte, die über dem Becken hing. Ach, all die kleinen
Annehmlichkeiten. Heißes Wasser. Zahnpasta. Wonach sehnte sie sich am meisten?
Kaffee.
Bestimmt wurde im Jahr 1513 irgendwo auf der Welt Kaffee angebaut. Wenn ihr
lüsterner Ehemann so darauf erpicht war, ihr zu gefallen, vielleicht könnte er
ihr zu etwas Kaffee verhelfen - und zwar schnell. Wenn sie weiterhin so
schlecht schlief, würde sie jeden Morgen eine ganze Kanne brauchen.
Als
der Hawk letzte Nacht ihr Gemach verlassen hatte, hatte sie am ganzen Körper
gezittert. Die Verlockungen des Schmieds waren nur ein dünnes Echo auf die
Anziehungskraft, die der Mann, den man den Hawk nannte, auf all ihre Sinne
ausübte. Allein seine Anwesenheit ließ sie innerlich erbeben und bescherte ihr
weiche Knie - weitaus heftiger, als es Adam verursacht hatte. Schnaubend
erinnerte sie sich an die Regeln des Hawk. Vier davon lauteten, den Schmied zu
meiden. Immerhin, das war ein sicherer Weg, ihn zu reizen, wenn ihr danach
war. Nachdem sie ihren Kaffee bekommen hatte.
Adrienne wühlte sich durch
Janets »Aussteuer« auf der Suche nach etwas leidlich Schlichtem, das sie
anziehen konnte. Nachdem sie ein limonengelbes Kleid gewählt hatte (wie wurden
in diesem Zeitalter bloß solche brillanten Stoffe hergestellt?), betonte sie
es mit einem goldenen Gürtel um die Hüfte und einigen goldenen Armreifen, die
sie fand. Weiche Lederpantoffeln für die Füße, die silbrige Mähne kurz
geschüttelt, und jetzt war Kaffee das einzig Lebenswichtige.
»Kaffee«, krächzte sie, nachdem
sie es endlich geschafft hatte, sich durch das weitläufige Schloß
hindurchzukämpfen und auf einige Leute zu treffen, die sich bei einem gemächlichen
Frühstück befanden. Es saßen ungefähr ein Dutzend
Menschen am Tisch, doch die
einzigen, die Adrienne erkannte, waren Grimm und Er, also schickte sie das
Wort hoffnungsvoll in ihre Richtung.
Der
ganze Tisch starrte sie an.
Adrienne
starrte unbeeindruckt zurück. Auch sie konnte unhöflich sein.
»Ich
glaube, sie sagte Kaffee«, meinte Grimm nach einer langen Pause, »obschon ich
von einigen unserer Jagdfalken schon verständlichere Laute vernommen habe.«
Adrienne
verdrehte die Augen. Der Morgen verlieh ihrer brandyerprobten Stimme immer
einen heiseren Klang. »Ich brauche Kaffee«, erklärte sie geduldig. »Und meine
Stimme ist morgens immer so.«
»Eine
Stimme, die man pflegen sollte, weich und raffiniert wie feinster Malt Scotch«,
schnurrte der Hawk. Seine Augen verweilten auf ihrem Gesicht und glitten dann
sanft hinunter
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