Zauber der Begierde
Das ist der Tod für einen Bruhdskar. Für jemanden, der sein eigenes Volk
verraten hat.«
»Das hat sie.«
»Aber sie war deine Tochter, Rushka. Wie?«
Die Schultern des alten Mannes fielen nach vorn, und
Hawk konnte den Schmerz in jeder Faser seines Körpers sehen. »Sie versuchte
dreimal, deine Lady zu töten«, sagte er schließlich.
Hawk war verblüfft.
»Esmeralda?«
»Dreimal. Mit dem
Blasrohr und mit dem Bogen. Die Bandage, die du um deine Hand trägst, ist
unser Werk. Wenn du uns von deinen Ländereien verbannst, werden wir nie wieder
deine Felder verdunkeln. Wir haben deine Gastfreundschaft verraten und dein
Wohlwollen mit Füßen getreten.«
Esmeralda. Es paßte.
Dennoch konnte er den ehrlichen, mitfühlenden und weisen Rushka nicht für ihre
Taten verantwortlich machen. Nein, nicht ihn, und auch keinen anderen der Roma.
»Ich würde niemals daran denken, dir den Zutritt zu meinen Ländereien zu
verweigern; du wirst jederzeit freien Zugang zu Dalkeith-Upon-the-Sea haben.
Ihre Schande ist nicht die deine, Rushka.«
»Ah, das ist sie sehr
wohl. Sie dachte, ohne deine neue Braut wärst du frei, sie zu heiraten. Sie war
seltsam, obwohl sie meine Tochter war. Es gab Zeiten, da selbst ich mir über
das Dunkle in ihrem Herzen Sorgen machte. Doch er brachte sie letzte Nacht zu
uns, und als der Mond am höchsten stand, gestand sie. Wir hatten keine andere
Wahl, als mit der Ehre zu handeln, die wir allen Betroffenen... schuldeten.«
Und nun die Prozession
zum Meer, bei der jeder Mann, jede Frau und jedes Kind weiße Kreuze aus
Eschenholz trug, die geschnitzt und zusammengebunden und mit leuchtend blauen
Runen bemalt waren. »Was für eine Art Kreuze sind das, Rushka?« fragte Hawk. In
all den Jahren, die er dieses Volk kannte, hatte er so etwas noch nie gesehen.
Rushka versteifte sich.
»Eines unserer Rituale bei einer solchen Art von Tod.«
»Rushka -«
»Du bedeutest mir soviel
wie mein eigen Fleisch und Blut, Hawk«, sagte Rushka schroff.
Hawk schwieg betroffen.
Rushka sprach selten über seine Gefühle.
»Seit Jahren hast du
unserem Volk dein Heim geöffnet. Du hast großzügig gegeben, uns mit Würde
behandelt und hast dich der Kritik enthalten, obwohl unsere Sitten und Gebräuche
anders sind als deine. Du hast mit uns gefeiert und uns erlaubt, zu sein, was
wir sind.« Rushka hielt inne und lächelte schwach. »Männer wie dich findet man
selten, Hawk. Aus diesen Gründen muß ich dir folgendes sagen, und die Gefahr
für meine Rasse soll verflucht sein. Sieh dich vor. Der Schleier ist dünn, und
Ort und Zeit sind hier zu nahe. Sieh dich vor, denn wie es scheint, bist du der
Angelpunkt des Ganzen. Gib gut acht auf die, die du liebst, und gleich, was du
tust, laß sie nicht lange allein. Zu mehreren ist man sicherer, wenn es über
uns kommt -«
»Wenn was über uns
kommt, Rushka? Werde genauer! Wie kann ich etwas bekämpfen, das ich nicht
verstehe?«
»Ich kann dir nicht mehr
sagen, mein Freund. Nur soviel: Bis zum Fest der seligen Toten bleibe nah und
näher bei denen, die du liebst. Und halte die, denen du nicht vertrauen kannst,
weit und weiter fern. Nicht.« Rushka hob eine Hand, um Hawk zu stoppen, als
dieser seinen Mund öffnete, um weitere Fragen zu stellen. »Wenn dir mein Volk
etwas bedeutet, besuchst du uns nicht wieder, bis wir das heilige Samhain
feiern. Oh«, fügte Rushka hinzu, als wäre es ihm nachträglich eingefallen, »die
alte Frau meint, ich solle dir sagen, daß die schwarze Dame nicht das ist, was
sie zu sein scheint. Sagt dir das etwas?«
Die einzige schwarze
Dame, die ihm in den Sinn kam, lag jetzt als Häufchen Asche im Schmiedefeuer.
Hawk schüttelte den Kopf. Die alte Frau war ihre Seherin, und mit ihren weitreichenden
Visionen hatte sie Hawk als jungem Burschen Ehrfurcht eingeflößt. »Nein. Hat
sie noch mehr gesagt?«
»Nur, daß du dies hier
brauchen würdest.« Rushka reichte ihm einen Beutel, der mit Lederriemen
verschnürt war. »Die Heilsalbe, wegen der du gekommen bist.« Er drehte sich
zurück zur Prozession. »Ich muß gehen. Ich muß den Marsch zum Meer anführen.
Nimm dich in acht und schütze dich gut, Freund. Ich hoffe, ich sehe dich und
all deine Lieben beim Samhain.«
Hawk beobachtete
schweigend, wie sich Rushka dem Trauermarsch für seine Tochter anschloß.
Wenn einer der Roma die
Regeln verletzte, nach denen sie lebten, wurde er oder sie von der eigenen
Sippe bestraft. Es war eine eng geknüpfte Gemeinschaft. Wild konnten sie sein
und großzügig
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