Zauber der Vergangenheit
und schlang meine Arme um ihn. Er erwiderte die Geste und zog mich vorsichtig an sich. Einige Momente verstrichen, in denen wir nur so dastanden und die Gegenwart des jeweils anderen genossen. Zwei verlorene Seelen im Kreuzfeuer der Erinnerungen, schoss es mir durch den Kopf. Manchmal spuckte mein Gehirn einfach die kuriosesten Gedanken aus. Als ich ihn wieder losließ, sah er mir in die Augen, als suche er etwas darin.
»Wir sollten uns noch etwas umsehen, wo wir schon mal hier sind«, sagte ich schnell und wandte mich von ihm ab. »Vielleicht hat er ja irgendeine Nachricht hinterlassen.« Ich wusste, wie unwahrscheinlich das war, machte mich aber dennoch auf den Weg ins nächste Zimmer. Vor allem trieb mich meine Neugier darauf, wie mein Großvater lebte und ob ich noch etwas anderes entdecken würde, das mir eventuell weiterhalf. Anthony folgte mir. Auf dem Küchentisch stand eine Vase mit vertrockneten Blumen. Etwas daran machte mich jedoch stutzig. Irgendwie hatten sie eine komische Farbe. Als ich näher herantrat, sah ich, dass es sich gar nicht um echte Blumen handelte. Sie waren aus Papier gefaltet. Ich wusste gar nicht, dass mein Großvater ein Origami-Fan gewesen war. Ich nahm eine der vergilbten Papierblüten in die Hand. Sie roch nach … Tee? Vorsichtig entfaltete ich sie. Es war ein Zeitungsartikel über das große Feuer von London. Die nächste Blüte beinhaltete einen Artikel über die großzügige Spende der Familie Scott und eine weitere einen über St. Paul's. Das konnte kein Zufall sein.
»Anthony, sieh dir das mal an«, sagte ich und winkte ihn zu mir heran. Er kam zu mir herüber und warf einen Blick auf die Zeitungsartikel.
»Riech mal daran«, forderte ich ihn auf.
»Earl Grey«, sagte er und sah mich verwundert an.
»Hier stimmt etwas nicht«, gab ich zu bedenken. Ich sah mich genauer um. Genau wie im Rest des Hauses lag überall Staub.
»Zeig mir mal den Ärmel deiner Jacke.« Anthony hielt mir seinen Arm hin. Dort, wo er den Staub von der Mappe gewischt hatte, waren Rückstände auf seiner Jacke zurückgeblieben. Aber sie sahen ganz und gar untypisch aus. Nicht wie Staub, sondern eher wie Puderzucker oder etwas in der Art. Ich zog meinen Finger über die Staubschicht des Tisches und leckte ihn ab.
»Violet, was machst du da?«, fragte Anthony befremdet.
»Das ist kein Staub! Das ist Mehl«, sagte ich.
»Mehl?« Anthony probierte ebenfalls von der Staubschicht.
»Ja, aber was hat das zu bedeuten?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich wollte er es nur so aussehen lassen, als sei das Haus unbewohnt«, vermutete Anthony.
»Aber warum?« Ich zermarterte mir das Gehirn, doch ich kam zu keinem vernünftigen Schluss.
»Vielleicht hat es etwas mit den Zeitungsartikeln zu tun.«
»Ja, vielleicht. Wir sollten sie auf jeden Fall mal genauer unter die Lupe nehmen.«
Ich zog einen der Stühle unter dem Tisch hervor und wischte ihn ab. Dann ließ ich mich darauf nieder und begann die Artikel zu studieren.
»Hier steht, das große Feuer, das die halbe Stadt in Schutt und Asche gelegt hat, sei möglicherweise in der Backstube der königlichen Bäckerei ausgebrochen.«
»Ja, das Gerücht ging lange um. Beweisen konnte man es aber nicht.«
»Hier ist auch ein gezeichnetes Portrait des Inhabers der Bäckerei. Der sieht Joshua Scott verdammt ähnlich.«
»Zeig mal her«, sagte Anthony und nahm mir das Blatt aus der Hand. »Das ist sein Onkel, Adrian Scott«, stellte er fest. »Er ist sozusagen das schwarze Schaf der Familie.«
Ich hatte mir bereits den nächsten Zeitungsausschnitt vorgenommen. »Laut diesem Artikel haben die Scotts ihr halbes Vermögen in den Wiederaufbau der Stadt gesteckt.«
»Nachdem der Verdacht auf sie gefallen war, hatten sie wahrscheinlich Angst, ihr Ansehen bei Hofe könne Schaden nehmen. Vermutlich haben sie deshalb ihre Unterstützung angeboten.« Ich reichte ihm auch diesen Artikel und widmete mich dem dritten.
Er war neueren Datums und befasste sich mit den Baufortschritten an der St. Paul's Cathedral. Darin stand nur wieder etwas über den großen Brand, und dass die Kathedrale nun beinahe fertiggestellt sei. Ich überflog die Zeilen und blieb beim Namen des Architekten hängen: Christopher Wren. Ich erinnerte mich, dass Mr Conners ihn erwähnt hatte. Angeblich hatte er meinen Großvater für das Projekt engagiert. Es musste irgendeine Verbindung zwischen diesen drei Berichten geben. Warum sonst sollte mein Großvater sie aufgehoben haben? Hatte er womöglich
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