Zauber einer Winternacht
lang, schlank, Künstlerhände. Vielleicht war es auch nur die Art eines Malers, sich mit dem Gesicht seines Modells noch näher vertraut zu machen. Was immer es zu bedeuten hatte, es verstärkte in ihr den Wunsch, geliebt zu werden, begehrt zu werden. Nicht als makellos schönes Gesicht, sondern als die Frau, die dahinter existierte.
»Ich werde langsam müde«, sagte sie betont gleichmütig. »Ich glaube, ich gehe zu Bett.«
Er gab ihr nicht gleich den Weg frei. Und seine Hand blieb, wo sie war. Er hätte nicht erklären können, warum er sich nicht rührte und in die Augen starrte, die ihn so sehr faszinierten. Dann trat er hastig einen Schritt zurück und öffnete ihr die Tür.
»Gute Nacht, Gabriel.«
»Gute Nacht.«
Er blieb draußen in der Kälte und fragte sich, was mit ihm los war. Einen Moment lang hatte er sie begehrt. Nein, verdammt, wesentlich länger als nur einen Moment. Von sich selbst angewidert, zupfte er eine Zigarette aus der Packung. Ein Mann musste ziemlich tief gesunken sein, wenn er an die Liebe mit einer Frau dachte, die im siebten Monat schwanger war, noch dazu von einem anderen Mann …
Er brauchte viel Zeit, um sich davon zu überzeugen, dass er es sich nur eingebildet hatte.
3. K APITEL
Er fragte sich, was wohl in ihrem Kopf vorging. Sie sah so gelassen aus, so ausgeglichen. Der pinkfarbene Pullover schmiegte sich am Kragen sanft an ihren Hals. Ihr Haar fiel schimmernd auf die Schultern herab. Auch jetzt trug sie keinen Schmuck, nichts, das von ihr ablenken konnte, nichts, das die Aufmerksamkeit auf sie lenken konnte.
Gabriel setzte bei der Arbeit nur selten Modelle ein, denn selbst wenn sie es schafften, die Pose so lange wie nötig einzuhalten, wirkten sie nach einer Weile doch gelangweilt oder rastlos. Laura dagegen sah aus, als ob sie mit dem leisen Lächeln auf dem Gesicht endlos dasitzen könnte.
Das war ein Teil dessen, was er in dem Porträt einzufangen hoffte. Diese innere Geduld, dieses … Nun, dieses gelassene Akzeptieren der Zeit, so könnte er es nennen. Das Akzeptieren dessen, was gewesen war, und dessen, was noch vor ihr lag. Er selbst hatte nie viel Geduld besessen, weder mit Menschen noch mit seiner Arbeit, noch mit sich selbst. Es war ein Charakterzug, den er an ihr bewundern konnte, ohne sie darum zu beneiden.
Und da war noch etwas. Etwas jenseits der ungemein fraulichen Schönheit und der madonnenhaften Gelassenheit. Von Zeit zu Zeit entdeckte er an ihr eine Wildheit, eine fast kriegerische Entschlossenheit.
Sie hatte mehr zu erzählen, als er bisher von ihr erfahren hatte, das stand fest. Die Bruchstücke, die sie ihm bisher anvertraut hatte, sollten ihn lediglich von weiteren Fragen abhalten. Es war nicht seine Art, sich mit Teilantworten zufriedenzugeben. Andererseits wollte er sie auch nicht quälen. Er wusste, wie schwer es ihr fiel, über ihre Vergangenheit zu reden.
Ihm blieb noch etwas Zeit. Aus dem Radio kamen andauernd Meldungen über unpassierbare Straßen und drohende Schneefälle. Die Rockies konnten im Frühling sehr trügerisch sein. Gabriel schätzte, dass es zwei bis drei Wochen dauern würde, bis sie gefahrlos in die Stadt gelangen konnten.
Er verstand es selbst nicht, aber er war froh darüber, dass Laura ihn aus seiner selbst gewählten Isolation befreit hatte. Es war lange her, dass er sich an ein Porträt gewagt hatte. Vielleicht zu lange her. Aber er war nicht in der Lage gewesen, ein Wesen aus Fleisch und Blut zu malen, nicht seit Michael.
In der Hütte, abgeschnitten von seinen Erinnerungen und den Dingen, die sie auslösten, hatte er mit dem Selbstheilungsprozess begonnen. In San Francisco war er unfähig gewesen, einen Pinsel aufzuheben. Die Trauer hatte ihn mehr als schwach gemacht, sie hatte ihn – leer gemacht.
Aber hier, allein, in der Abgeschiedenheit der Berge, hatte er Landschaften gemalt, Stillleben, halberinnerte Träume und Seestücke nach alten Skizzen. Das hatte ihm gereicht. Erst jetzt, bei Laura, empfand er das Bedürfnis, wieder ein menschliches Gesicht zu malen.
Einst hatte er an die Fügung des Schicksals geglaubt, an einen Lebenslauf, der bereits vor der Geburt feststand. Michaels Tod hatte ihm diesen Glauben genommen. Von da an brauchte Gabriel etwas oder jemanden, dem er die Schuld geben konnte. Am einfachsten war es gewesen, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Jetzt, wo er Laura zeichnete und über den Zufall nachdachte, durch den sie in sein Leben getreten war, begann er erneut über die
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