Zauber einer Winternacht
Schicksalhaftigkeit nachzugrübeln.
Und worüber, das fragte er sich einmal mehr, grübelt sie nach?
»Sind Sie müde?«
»Nein.« Sie antwortete, bewegte sich jedoch nicht. Er hatte einen Stuhl ans Fenster gestellt und ihn so ausgerichtet, dass sie ihm das Gesicht zuwandte, aber trotzdem hinaussehen konnte. Das Licht fiel auf sie, ohne einen Schatten zu werfen. »Ich sehe gern auf den Schnee hinaus. Es sind Spuren darin, und ich frage mich, welche Tiere wohl, von uns unbeobachtet, hindurchgelaufen sind. Und ich kann die Berge erkennen. Sie sehen so alt und zornig aus. Bei uns im Osten wirken sie zahmer, gutmütiger.«
Geistesabwesend murmelte er etwas Zustimmendes und musterte die Zeichnung. Sie war gut, stimmte aber irgendwie noch nicht ganz. Er legte den Block zur Seite und sah stirnrunzelnd zu ihr auf. Sie blickte zurück, geduldig und – wenn er den Ausdruck richtig deutete – belustigt. »Haben Sie etwas anderes, das Sie anziehen könnten? Etwas Schulterfreies vielleicht?«
Jetzt war ihre Belustigung kaum noch zu übersehen. »Tut mir leid, aber meine Garderobe ist momentan etwas begrenzt.«
Er stand auf, ging hin und her, zum Kamin, zum Fenster, zurück zum Tisch. Als er zu ihr kam, ihren Kopf mit beiden Händen hin und her drehte, machte sie jede Bewegung folgsam mit. Nach drei Tagen des Posierens war sie daran gewöhnt. Sie kam sich vor wie ein Blumenarrangement oder wie eine Schale mit Obst. Es war, als hätte jener Augenblick der Erkenntnis auf der schneebedeckten Veranda nie existiert. Vermutlich hatte sie sich das, was sie in seinen Augen entdeckt zu haben glaubte, nur eingebildet. Ebenso wie ihre eigene Reaktion darauf.
Er war der Künstler. Sie war die Modelliermasse. Die Situation war für sie nicht neu.
»Sie haben ein absolut feminines Gesicht«, begann er, mehr zu sich selbst als zu ihr. »Verführerisch und doch ernst – und sanft, trotz der leicht kantigen Form und der Wangenknochen. Es wirkt nicht bedrohlich, und dennoch ist es irgendwie – verwirrend. Dies hier …« Sein Daumen rieb wie beiläufig über ihre Unterlippe. »Dies hier bedeutet Sex, während Ihre Augen gleichzeitig Liebe und Zuneigung versprechen. Und die Tatsache, dass Sie reif sind …«
»Reif?« Sie lachte, und die Hände, die zusammengepresst auf ihrem Schoß gelegen hatten, entspannten sich.
»Das ist es doch, was Schwangerschaft in Wirklichkeit ist. Eine Art von Reife, die Sie umso faszinierender erscheinen lässt. Eine Frau, die ein Kind austrägt, hat etwas von Versprechung und Erfüllung an sich und – bei allem Fortschritt und trotz allen Wissens – etwas fesselnd Mysteriöses. Wie ein Engel.«
»Wie denn das?«
Noch während er sprach, experimentierte er mit ihrem Haar. Er legte es nach hinten, türmte es auf, ließ es wieder hinabfallen. »Für uns sind Engel himmlische Wesen, rätselhaft, erhaben über menschliche Begierden und Fehler, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass sie einst selbst Menschen waren.«
Seine Worte berührten sie, ließen sie lächeln. »Glauben Sie an Engel?«
Seine Hand befand sich noch zwischen ihren Haaren, aber er hatte vollkommen vergessen, aus welchen praktischen Gründen sie dorthin gelangt war. »Das Leben wäre nicht viel wert, wenn man das nicht täte.« Sie hatte das Haar eines Engels, blond schimmernd, seidig wie eine Wolke. In einem plötzlichen Anflug von Verlegenheit zog er die Hand zurück und steckte sie in die Tasche seiner ausgebeulten Cordhose.
»Möchten Sie eine Pause machen?«, fragte sie ihn. Ihre Hände lagen wieder, zu kleinen Fäusten geballt, auf dem Schoß.
»Ja. Ruhen Sie sich eine Stunde aus. Ich muss das erst noch durchdenken.« Automatisch wich er zurück, als sie aufstand. Außerhalb der Arbeit vermied er sorgfältig jeden körperlichen Kontakt mit ihr. Es war beunruhigend, wie sehr er sie immerzu berühren wollte. »Legen Sie die Beine hoch.« Sie zog eine Augenbraue hoch und verunsicherte ihn damit. »Das empfiehlt jedenfalls das Buch, das Sie immer herumliegen lassen. Ich dachte mir, es schadet nichts, wenn ich einmal hineinsehe.«
»Sie sind sehr freundlich.«
»Reine Selbsterhaltung.« Wenn sie so lächelte, gingen seltsame Dinge in ihm vor. Dinge, die er zwar richtig deutete, die er sich aber nicht eingestehen wollte. »Je mehr ich dafür sorge, dass Sie auf sich aufpassen, desto geringer ist die Gefahr, dass die Wehen kommen, bevor die Straßen wieder frei sind.«
»Ich habe noch über einen Monat Zeit«, erinnerte sie ihn.
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