Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
glaubt, dass ein Mann härter sein muss, als über ein paar Flecken auf einer Decke die Nase zu rümpfen.«
Vielleicht, gab Wintrow im Stillen zu, stimmt das. Aber er würde sich nicht die Mühe machen, sich bei seinem Vater zu beschweren, um das herauszufinden. Es war sinnlos, sich über die Unbequemlichkeit einer Nacht aufzuregen. Sein Schweigen schien Torg jedoch zu beunruhigen.
»Du glaubst wohl, du kannst mir mit deinem Gejammer Schwierigkeiten machen, was? Das wirst du nicht schaffen! Ich kenne deinen Vater besser!«
Wintrow ließ sich nicht herab, auf die drohende Bemerkung und die Respektlosigkeit des Mannes zu reagieren. Als er beschlossen hatte, sich nicht weiter zu streiten, hatte er es aufgegeben, emotionale Energie an diese Situation zu verschwenden. Er hatte seine Beseeltheit in sich selbst zurückgezogen, wie er es gelernt hatte, und sie von seinem Ärger und jeder Aggression befreit. Nicht, dass diese Gefühle etwa wertlos oder unangemessen gewesen wären. Aber sie waren eine Verschwendung, wenn es um diesen Mann ging. Er löschte einfach die Gedanken an die schmutzige Decke aus seinem Bewusstsein. Als er das Vordeck erreichte, hatte er nicht nur seine Ruhe wiedergefunden, sondern auch seine innere Mitte.
Er lehnte sich gegen die Reling und blickte auf das Wasser hinaus. Im Hafen ankerten noch mehrere andere Schiffe.
Gelbliches Licht schien von ihnen herüber. Er betrachtete sie.
Seine eigene Ignoranz überraschte ihn. Diese Schiffe waren ihm fremd, ihm, dem Sohn einer alten Händler-und Seefahrerfamilie. Die meisten waren Handelsschiffe, und dazwischen lagen einige wenige Fischerboote. Die Handelsschiffe hatten ein Heck quer zum Rumpf mit Kajüten, die manchmal fast bis zu den Hauptmasten reichten. Zwei oder drei Masten streckten sich von jedem Schiff beinahe bis zum Mond hinauf.
Am Strand blühte der Nachtmarkt, bebte vor Musik und glänzte im Licht. Jetzt, wo die Hitze des Tages abgeflaut war, brannten offene Grillfeuer in der Nacht. Eine leichte Brise wehte ihm den Duft von gewürztem Fleisch und selbst den von gebackenem Brot in die Nase. Auch Klangfetzen drangen über das Wasser, ein schrilles Lachen, Musik, ein Schrei. In den Wellen brachen sich die Lichter des Marktes und der Schiffe, die sie zu einem bewegten Spiegel machten. »Und doch ist in allem ein Friede«, sagte Wintrow laut.
»Weil alles so ist, wie es sein soll«, stimmte Viviace zu. Ihre Stimme besaß das warme Timbre einer erwachsenen Frau. Sie schien von derselben dunklen Samtigkeit wie die Nacht und hatte sogar denselben rauchigen Beigeschmack. Bei ihrem Klang wallte Freude in Wintrow auf – und reine Fröhlichkeit.
Erst nach einem Moment stutzte er über seine Reaktion.
»Wer bist du?«, fragte er sie leise und ehrfürchtig. »Wenn ich nicht bei dir bin, glaube ich, dich fürchten oder dir zumindest misstrauen zu müssen. Aber dennoch bin ich an Bord, und wenn ich deine Stimme höre, dann ist es fast so… wie ich mir vorstelle, dass es ist, wenn man liebt.«
»Wirklich?«, wollte Viviace wissen. Sie verbarg die Freude in ihrer eigenen Stimme nicht. »Dann sind deine Gefühle dieselben wie die meinen. Ich bin so lange erwacht… Jahrelang, das ganze Leben deines Vaters und seines Vaters, immerdar, seit deine Urgroßmutter sich in meine Obhut gegeben hat. Und heute, als ich mich endlich rühren konnte, meine Augen wieder für die Welt öffnen durfte, euch mit allen meinen Sinnen schmecken, riechen und hören konnte, widerfuhr mir Angst. Wer seid ihr, dachte ich, ihr Kreaturen aus Fleisch und Blut, die ihr in euren Körpern geboren werdet und dem Untergang geweiht seid, wenn das Fleisch versagt? Und als ich mich darüber wunderte, leider, weil ihr mir so fremd wart, wusste ich nicht, was ihr mir antun würdet. Doch wenn einer von euch mir nahe ist, dann fühle ich, dass ihr aus demselben Strang geknüpft seid wie ich, dass wir nur Glieder eines geteilten Lebens sind und dass wir uns gemeinsam ergänzen. Ich empfinde Freude in deiner Gegenwart, weil mein eigenes Leben sich ausdehnt, wenn wir einander nah sind.«
Wintrow lehnte reglos und schweigend an dem Geländer, als lausche er einer begnadeten Dichterin. Sie sah ihn nicht an, und sie musste ihn auch nicht ansehen, um ihn wahrzunehmen. Wie er blickte auch sie hinaus auf den Hafen, über die festlichen Lichter des Nachtmarktes. Selbst unsere Augen sehen dasselbe, dachte er, und sein Lächeln vertiefte sich. Es hatte nur wenige Momente gegeben, in denen Worte ihn so
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