Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
vollständig.
Hinter der geschwungenen Kurve des Hafens konnte er die Lichter und die schwachen Geräusche des Nachtmarktes sehen und hören. Ein Windstoß trug einen Fetzen Musik zu ihm herüber, Pfeifen und Glöckchen. Vielleicht wurde dort eine Hochzeit gefeiert, mit Tanz. In seiner Nähe warfen die Teerfackeln, die am Pier brannten, ihr blakendes Licht in kümmerlichen Kreisen auf die Bohlen. Die Wellen schlugen rhythmisch gegen die Pfeiler unter den Docks, und die vertäuten Schiffe knarrten und dümpelten vor sich hin. Für ihn wirkten sie wie große, hölzerne Tiere, und dann lief ihm ein Schauer über den Rücken, als er sich an das Bewusstsein des Zauberschiffs erinnerte. Es ist weder ein Tier noch ein Holzschiff, erkannte er unvermittelt, sondern eine unheilige Mischung. Wie hatte er sich nur freiwillig anbieten können, eine Nacht auf ihr zu verbringen?
Als er zum Pier zurückging, an dem die Viviace vertäut war, verwirrten das tanzende Licht der Fackeln und das schwankende Wasser seinen Blick, und sein Gang wurde unsicher. Als er das Schiff endlich erreichte, hatte ihn die Erschöpfung dieses langen Tages schließlich eingeholt.
»Oh, da bist du ja!«
Er zuckte bei der Begrüßung durch das Schiff zusammen, erholte sich jedoch rasch. »Ich habe dir doch versprochen, dass ich wiederkommen würde«, erinnerte er sie. Es kam ihm seltsam vor, hier auf dem Pier zu stehen, zu ihr hochzusehen und mit ihr zu sprechen. Das Licht der Fackel tauchte sie in ein merkwürdiges Licht. Obwohl ihre Gesichtszüge menschlich waren, reflektierte ihre Haut den Schein von Holz. Von seinem Standort aus sah er noch viel deutlicher, wie überlebensgroß sie war. Ihre vollen nackten Brüste waren ebenfalls sehr gut zu erkennen. Wintrow stellte fest, dass er tunlichst vermied, sie zu genau zu betrachten, und dass es ihm genauso unangenehm war, ihr in die Augen zu blicken. Sie ist ein hölzernes Schiff, versuchte er sich einzureden. Sie ist ein Holzschiff. Aber als sie in dem dämmrigen Licht auf ihn herunterlächelte, wirkte sie eher wie eine junge Frau, die lockend in einem Fenster lehnt. Es war einfach lächerlich.
»Willst du nicht an Bord kommen?«, fragte sie ihn lächelnd.
»Selbstverständlich«, entgegnete er. »Ich bin gleich bei dir.«
Als er die Laufplanke hinaufstieg und sich den Weg über das dunkle Deck bahnte, wunderte er sich erneut über sich selbst.
Zauberschiffe, Lebensschiffe, soviel wusste er, gab es nur in Bingtown. Seine Ausbildung zum Priester hatte dieses Thema niemals berührt. Dennoch war er vor bestimmten Zaubern gewarnt worden, weil sie der Heiligkeit allen Lebens zuwiderliefen: Die Magie, die etwas Lebendiges zerstörte, um etwas anderes zum Leben zu erwecken; die Magie, die das Leben zerstörte, um die eigene Macht zu verstärken; die Magie, die das Leben der anderen schlechter machte, um das eigene oder ein anderes Leben zu verbessern… Aber nichts davon schien auf die Magie zu passen, die ein Lebensschiff erweckte. Sein Großvater wäre gestorben, ob das Schiff nun existierte oder nicht. Und man konnte wirklich nicht sagen, dass sein Großvater vernichtet worden wäre, damit das Zauberschiff erwachte. Gerade als er diese Lösung gefunden hatte, stolperte er über ein Stück Tau und fiel der Länge nach hin.
Jemand lachte laut. Vielleicht galt es ja nicht ihm. Irgendwo auf dem dunklen Deck schoben vielleicht einige Seeleute Wache und erzählten sich lustige Geschichten, um die Zeit zu überbrücken. Vielleicht. Sein Gesicht war immer noch gerötet, und er unterdrückte seinen Zorn darüber, dass er sich möglicherweise lächerlich gemacht hatte. Narretei, sagte er sich.
Es war albern, sich darüber zu ärgern, wenn ein Mann dumm genug war, ein Stolpern komisch zu finden, und noch närrischer war es, wenn man nicht einmal sicher sein konnte, dass dem überhaupt so war. Es war einfach nur ein langer Tag gewesen. Er stand vorsichtig auf und tastete sich zum Vordeck weiter.
Eine grobe Decke lag dort unordentlich auf einem Haufen. Sie roch nach dem, der sie zuletzt benutzt hatte, und sie war entweder schlecht gewebt oder fleckig von Schmutz. Er ließ sie wieder auf das Deck fallen. Einen Moment überlegte er, ob er es einfach dabei bewenden lassen sollte; die Nacht war nicht kühl, und er brauchte vielleicht gar keine Decke. Sollte diese Beleidigung doch ungesühnt durchgehen. Er würde ab morgen nichts mehr damit zu tun haben. Dann jedoch bückte er sich und riss die Decke vom Boden hoch. Es
Weitere Kostenlose Bücher