Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
wurde zurückzukehren. Jetzt war es noch nicht einmal später Nachmittag, aber der Tag wirkte viel kälter und grauer. Sie sah sich noch einmal um. Die Welt schien plötzlich ein formloser Ort zu sein. Kein Schiff, keine Pflichten, keine Familienbande. Sie musste sich nur um die Münzen in ihrer Tasche und um den Sack auf ihrem Rücken kümmern. Eine merkwürdige Mischung von Gefühlen überkam sie plötzlich.
Sie fühlte sich verlassen und einsam, vernichtet von der Weigerung, ihr ein Schiffszeugnis zu geben, und trotzdem machtvoll und unabhängig. Tollkühn. Das war das richtige Wort. Ihr schien es, als könnte nichts, was sie tun würde, ihre Lage verschlechtern. Sie konnte alles tun, was sie wollte, und war niemandem Rechenschaft schuldig. Ganz einfach deshalb nicht, weil sich niemand darum kümmerte. Sie konnte sich sinnlos betrinken oder ihre ganze Heuer für eine ausschweifende Nacht mit Essen, Wein und Musik in exotischer Umgebung verprassen. Natürlich gab es ein Morgen danach, aber es gab immer ein Morgen, dem man sich stellen musste.
Und wenn sie sich prügeln wollte, konnte ihr das niemand verbieten oder sie am nächsten Tag dafür ausschimpfen.
Alles in allem sah es nicht so aus, als hätte sich ihre sorgfältige Zukunftsplanung in der letzten Zeit ausgezahlt.
Althea schob sich den Seesack auf der Schulter zurecht und setzte sich dann ihre Kappe kecker auf den Kopf. Während sie durch die Straßen schlenderte, sog sie jedes Detail der Stadt in sich auf. So dicht am Hafenviertel stieß sie hauptsächlich auf Schiffsmakler, Ausrüster und billige Pensionen für Seeleute.
Dazwischen lagen Tavernen, Bordelle, Spielhöllen und Drogenspelunken. Es war ein raues Viertel für eine raue Sorte Mensch. Und jetzt gehörte sie dazu.
Sie pickte sich willkürlich eine Taverne heraus und ging hinein.
Einen großen Unterschied zu den Tavernen von Bingtown konnte sie nicht feststellen. Der Boden war mit Stroh bedeckt, das nicht mehr ganz frisch war. Die langen, aufgebockten Tische wiesen noch uralte, klebrige Ränder von unzähligen Bierkrügen auf. Die Bänke sahen aus, als würden sie häufig benutzt. Decke und Wände waren rußgeschwärzt vom Rauch des Ofens und der Lampen. In einem Gastraum gab es einen großen Kamin, und dort hielten sich die meisten Seeleute auf. Sie suchten die Wärme und den Duft des Eintopfs. Dort standen auch der Wirt, ein dünner, düsterer Kerl, und eine Schar Serviermädchen.
Einige blickten mürrisch drein, andere kicherten bloß. Hinter ihnen führte eine Treppe ins Obergeschoss. Das Stimmengewirr schlug ihr wie eine Sturmbö entgegen.
Althea fand einen Platz an einem fast leeren Tisch, der nicht so dicht am Kamin stand, wie sie es gern gehabt hätte. Dennoch war es hier erheblich wärmer als draußen oder auf dem Vorschiff der Reaper . Sie lehnte sich an die Wand. Das Bier, das sie bekam, war überraschend gut, und der Eintopf war zwar schlecht gewürzt, aber dennoch eine beträchtliche Verbesserung zum Speiseplan auf dem Schiff. Und das Stück Brot, das sie dazu bekam, war mehr als nur eine schwache Entschädigung. Es konnte höchstens vor ein paar Stunden den Ofen verlassen haben. Es war dunkel, dick, mit Körnern, und man konnte es richtig kauen. Sie aß langsam, genoss die Wärme, die Nahrung und das Bier und weigerte sich, an etwas anderes zu denken.
Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich oben ein Zimmer zu mieten, aber die Schreie und das Gelächter, das von oben herunterdrang, machten ihr klar, dass diese Zimmer nicht zum Schlafen gedacht waren. Ein Mädchen näherte sich ihr halbherzig, aber Althea tat, als verstehe sie nicht. Das Mädchen schien nicht ungern wieder zu gehen.
Wie lange man wohl eine Hure sein muss, bevor man es satt hat? fragte sich Althea. Oder sich daran gewöhnt? Unwillkürlich strich sie mit der Hand über ihren Bauch und berührte durch das Hemd den kleinen Ring in ihrem Bauchnabel. Hure, hatte der Kapitän sie geschimpft, und ihr vorgeworfen, die Seeschlangen angelockt zu haben. Das war natürlich lächerlich. Aber genauso hatten sie sie gesehen. Sie biss von ihrem Brot ab und sah sich in dem Raum um. Wie würde es sein, wenn sie sich einfach irgendeinem der Männer für Geld anbot? Es war ein stinkender Haufen, und wenn die See einen Mann auch hart machte, sie verunstaltete ihn ganz sicher auch. Ausgeschlagene Zähne, fehlende Gliedmaßen und Hände und Gesicht dunkel und verwittert. Und zwar nicht nur von Wind und Sonne, sondern auch von Teer
Weitere Kostenlose Bücher