Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
viel, wie sie ihm für die Fahrt schuldete, und keinen Heller mehr. Sollte er doch darüber lachen. Er rächte sich, indem er ihr nicht einmal beim Aussteigen half. Nun, sie brauchte seine Hand auch nicht.
Schließlich war sie jung und gelenkig und kein verkrüppeltes altes Weib. Sie trat leicht auf den Saum ihres Kleides, als sie ausstieg, aber sie stolperte nicht und zerriss es auch nicht.
»Holen Sie mich um Mitternacht ab!«, befahl sie ihm gebieterisch. Das war zwar ein sehr frühes Ende für den Erntedankball, aber auch wenn sie es nicht zugeben wollte: Sie wollte ihre Mutter nicht zu sehr reizen. Wenn sie zu weit ging, rief sie vielleicht auch Großmutters Autorität auf den Plan.
Außerdem kam nach Mitternacht immer die Präsentation, und dieser Teil des Balls hatte es Malta nie besonders angetan. Es war einfach zu unheimlich. Einmal, Malta war erst sieben Jahre alt gewesen, hatte der Vertreter der Regenwildnis für die Präsentation die Maske abgenommen. Malta war von seinem Körper vollkommen verblüfft worden. Es sah aus, als hätte ein Kind als Mensch begonnen, habe aber im Wachstum die menschliche Gestalt übertroffen, merkwürdige Knochen ausgebildet, eine ungewöhnliche Höhe und Haut, in der sich Organe verbargen, die nicht zu einem menschlichen Körper gehörten. Sie hatte gestaunt, als ihr Großvater ihm die Hand gegeben und ihn »Bruder« genannt hatte. Ihr Großvater hatte sogar die Präsentation ihrer Familie in die Hände dieses Mannes vom Regenwildvolk gelegt. Noch viele Nächte danach hatte ihr die Erinnerung an den Anblick des Regenwildmannes Alpträume bereitet. Ihr einziger Trost war gewesen, wie tapfer ihr Großvater war. Sie brauchte solche Monster nicht zu fürchten. Trotzdem. »Punkt Mitternacht!«, wiederholte sie.
Der Fahrer blickte vielsagend auf die paar Münzen in seiner Hand. »Aber ganz gewiss, junge Herrin«, sagte er sarkastisch. Er trieb das Pferd an, und als die Hufschläge verklangen, beschlichen Malta Zweifel. Wenn er nun nicht zurückkam? Sie konnte sich nicht vorstellen, den langen Weg nach Hause zu laufen, jedenfalls nicht in einem langen Kleid und in Slippern.
Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite. Sie würde sich von nichts und niemandem den Spaß an dieser Nacht nehmen lassen.
Kutschen fuhren bereits vor der Händlerhalle vor. Malta war schon oft hier gewesen, aber heute Abend kam ihr alles größer und beeindruckender vor. Der Glanz der Fackeln ließ den Marmor beinahe bernsteinfarben leuchten. Aus jeder Kutsche stiegen Händler aus, in Gruppen oder ganze Familien, alle in ihrem besten Staat gekleidet. Die prächtigen Gewänder der Frauen fegten über die Pflastersteine. Die Mädchen trugen die letzten Blumen des Jahres im Haar, und die kleinen Jungen waren geschrubbt und unglaublich ordentlich gekleidet. Und die Männer… Eine Weile blieb Malta im Schatten stehen und beobachtete beinahe gierig, wie sie aus den Kutschen oder von ihren Pferden stiegen. Auf die Väter und Großväter achtete sie nicht weiter. Ihre Blicke folgten eher den jungen Ehemännern und denen, die so ganz offensichtlich und strahlend ledig waren.
Malta beobachtete sie, wenn sie ankamen, und dachte nach.
Wie sollte man auswählen, und woher konnte eine Frau es vorher wissen? Es gab so viele verschiedene Männer, und trotzdem konnte eine Frau zu ihren Lebzeiten nur einen Mann besitzen. Oder zwei, vielleicht, wenn ihr Mann jung starb und sie zur Witwe machte, solange sie noch Kinder gebären konnte.
Trotzdem: Vermutlich wünschte sich das keine Frau, wenn sie ihren Ehemann wirklich liebte, ganz gleich, wie neugierig sie auch sein mochte. Dennoch, es war nicht fair. Da, das war Roed Caern. Er kam auf einem schwarzen Ross daher und zügelte es so unvermittelt, dass seine Hufe auf den Pflastersteinen rutschten. Sein schwarzes Haar flatterte ihm über den Rücken.
Es glänzte genauso wie die Mähne seines Pferdes und wehte genauso frei. Seine breiten Schultern schienen die Nähte seines geschneiderten Mantels zu strapazieren. Er hatte eine scharfe Nase und schmale Lippen, und Delo erschauderte, wenn sie von ihm sprach. »Oh, aber er ist so grausam!«, sagte sie wissend und verdrehte die Augen, als Malta hatte wissen wollen, was sie meinte.
Eifersucht nagte an Malta. Eifersucht, dass Delo solche Dinge wusste und sie nicht. Delos Bruder lud seine Freunde häufig zum Essen zu sich nach Hause ein. Roed war einer von ihnen.
Ach, warum konnte sie nicht auch einen Bruder wie Cerwin haben,
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