Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
beherrschen wollen. Und jetzt wusste er, dass ihm genau das niemals gelingen würde.
»Nein, Sir? Nun gut.«
Mit einer Lässigkeit, die nicht vorgetäuscht sein konnte, ging Wintrow zum Bug des Schiffes.
Einen Moment betrachtete er umständlich seinen Finger in der Hand. Den Nagel, der bei der Arbeit gespalten und schmutzig geworden war, das zerquetschte Fleisch und den zermalmten Knochen. Dann warf er das kleine Stück Fleisch über Bord, als bedeute es gar nichts, als hätte es niemals zu ihm gehört. Er blieb an der Reling stehen, aber ohne sich an ihr festzuhalten.
Und blickte starr in die Ferne. In eine Zukunft, der er einmal versprochen gewesen war und die jetzt noch weiter entfernt schien als Tage oder eine bloße räumliche Distanz es hätten bewerkstelligen können. Er schwankte leicht. Niemand bewegte sich oder sprach. Selbst der Kapitän schwieg, aber sein Blick war auf seinen Sohn gerichtet, als wenn er ihn damit durchbohren könnte. In seinem Hals traten die Muskelstränge deutlich hervor.
»Mild.«
Gantry brach das Schweigen. »Bring ihn nach unten.
Und führ ihn in seine Hängematte. Du siehst bei jeder Glocke nach ihm. Und komm sofort zu mir, wenn er hohes Fieber hat oder im Delirium spricht.«
Er rollte die Instrumente wieder in den Segeltuchbeutel ein, öffnete eine Holzkiste und durchwühlte einige Flaschen und Pakete, die darin lagen. Ohne aufzublicken, sagte er: »Und ihr anderen solltet an eure Arbeit gehen, bevor ich euch Beine mache.«
Diese Drohung reichte. Die Männer verschwanden. Seine Worte waren einfach gewesen, und die Befehle lagen durchaus innerhalb seiner Pflichten als Erster Maat. Aber niemandem war entgangen, dass Gantry auf eine sehr geschickte Art und Weise zwischen den Kapitän und seinen Sohn getreten war. Er hatte es so unauffällig getan, wie er es für jeden anderen aus der Mannschaft auch getan hätte, der dem Kapitän zu sehr aufgefallen war. So etwas war für den Ersten Maat nicht ungewöhnlich. Er hatte es oft genug getan, als Kyle das Kommando über die Viviace frisch übernommen hatte. Aber noch nie zuvor hatte er sich zwischen den Kapitän und dessen Sohn gestellt. Dass er es tat, zeigte, dass er Wintrow als ein echtes Mitglied der Mannschaft akzeptierte. Und ihn nicht als den verdorbenen Sohn des Kapitäns betrachtete, der nur mitgekommen war, damit er Disziplin lernte.
Mild machte sich so klein und unauffällig wie möglich, während er wartete. Nach einer Weile drehte sich Kapitän Haven ohne ein weiteres Wort um und stapfte davon. Mild sah ihm nach und riss dann seinen Blick von ihm los, als wäre es irgendwie peinlich, seinem Kapitän hinterherzusehen.
»Und Mild…«, fuhr Gantry plötzlich fort, als hätte es keine Pause gegeben. »Hilf Wintrow, seine Sachen und seine Kleidung ins Vorschiff zu bringen. Er wird bei den anderen Männern schlafen. Sobald er sich eingerichtet hat, gib ihm das hier. Nur einen Löffel. Den Rest bringst du mir zurück. Es ist Laudanum«, fügte er lauter hinzu, damit Wintrow ihn verstand.
»Ich will, dass er schläft. Dann heilt die Wunde schneller.«
Er reichte dem Jungen eine dicke, braune Flasche, stand auf und klemmte sich den Kasten unter den Arm. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Gantry um und ging davon.
»Jawohl, Sir«, erwiderte Mild. Er trat schüchtern an Wintrows Seite. Als der andere Junge ihn keines Blickes würdigte, zupfte er ihn am Ärmel. »Du hast gehört, was der Maat gesagt hat«, erinnerte er ihn verlegen.
»Ich würde lieber hier bleiben.«
Wintrows Stimme klang träumerisch. Für den Schmerz musste man früher oder später bezahlen, das begriff Viviace jetzt. Er hatte zwar seinen Körper davon abhalten können, sofort darauf zu reagieren, aber nur um den Preis totaler Erschöpfung.
»Ich weiß«, sagte Mild beinahe freundlich. »Aber es war ein Befehl.«
Wintrow seufzte und drehte sich um. »Ich weiß.«
Mit der Fügsamkeit des Erschöpften folgte er dem anderen Jungen unter Deck.
Kurz darauf merkte Viviace, dass Gantry selbst das Ruder übernommen hatte. Das tat er nur, wenn er beunruhigt war und nachdenken musste. Er ist kein schlechter Erster Maat, dachte sie.
Brashen war zwar besser gewesen, aber Brashen hatte auch viel länger auf ihr Dienst getan. Gantry führte das Ruder sicher und ruhig. Er versicherte sich seiner Kontrolle, aber er misstraute ihr nicht.
Viviace sah sich verstohlen um und öffnete dann die Hand. Der Finger lag auf ihrer Handfläche. Sie glaubte nicht, dass jemand
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