Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
Zeit über verriet er mit keinem Zeichen, keinem Wort und keiner Bewegung, dass er Schmerzen empfand. Er hätte genauso gut Segeltuch flicken können, dachte Viviace. Nein. Irgendwo war er sich der Schmerzen wohl bewusst. Sein Körper jedenfalls spürte sie, denn ihm rann der Schweiß den Rücken hinunter, und sein Hemd klebte ihm an der Haut. Er fühlte den Schmerz, irgendwo, aber er hatte ihn aus seinem Verstand verbannt. Er war zu einem hartnäckigen Signal geworden, das sein Körper ihm schickte. Ein Zeichen, dass da irgendwo etwas nicht stimmte.
Genauso wie Hunger oder Durst ein Signal waren. Ein Signal, das man ignorieren konnte, wenn man musste.
Ich verstehe. Das stimmte zwar nicht ganz, dennoch war sie gerührt, was er mit ihr teilte. Als der Verband fertig war, rollte er sich auf die Fersen, war aber klug genug, nicht sofort aufzustehen. Es war sinnlos, sein Schicksal jetzt sofort herauszufordern. Er hatte zuviel geschafft, um jetzt alles mit einer Ohnmacht zu verderben. Stattdessen nahm er die Tasse mit Brandy, die Mild ihm mit zitternden Händen einschenkte.
Er trank sie langsam aus, in drei ruhigen Zügen. Er kippte den Schnaps nicht einfach herunter, sondern trank ihn wie jemand, der Wasser trinkt, wenn er sehr durstig ist. Als er Mild die Tasse zurückgab, trug sie seine blutigen Fingerabdrücke.
Wintrow sah sich um. Langsam rief er sein Bewusstsein wieder in seinen Körper zurück. Er biss die Zähne zusammen, als der glühende Schmerz von seiner Hand ihn erfüllte. Einen Augenblick tanzten schwarze Punkte vor seinen Augen. Er blinzelte, um sie zu vertreiben, und versuchte sich auf die beiden blutigen Handabdrücke zu konzentrieren, die er auf dem Deck der Viviace hinterlassen hatte. Das Blut war tief in das Hexenholz eingedrungen. Sie wussten beide, dass diese Zwillingsmale nicht mehr ausgelöscht werden konnten.
Langsam hob er den Blick und sah sich um. Gantry reinigte das Skalpell an einem Lappen. Er erwiderte den Blick des Jungen.
Der hatte die Stirn gerunzelt, aber er lächelte ein wenig, als er ihm unmerklich zunickte. Milds Gesicht war immer noch blass, und er sah ihn mit großen Augen an. Kyle blickte nach wie vor über die Reling aufs Meer hinaus.
»Ich bin kein Feigling.«
Wintrow sprach nicht laut, aber seine Stimme war klar und deutlich zu verstehen. Sein Vater drehte sich bei den herausfordernden Worten langsam um.
»Ich bin kein Feigling«, wiederholte Wintrow lauter. »Ich bin nicht groß. Und ich behaupte auch nicht, stark zu sein.
Aber ich bin weder ein Schwächling noch ein Feigling. Ich kann Schmerz ertragen. Wenn es notwendig ist.«
Kyles Augen glänzten merkwürdig, und die Spur eines Lächelns spielte um seine Lippen. »Du bist ein Haven«, behauptete er mit ruhigem Stolz.
Wintrow sah ihm gelassen in die Augen. In seinem Blick lag weder Trotz noch der Wille, ihn zu verletzen. Aber seine Worte waren unmissverständlich. »Ich bin ein Vestrit.«
Er betrachtete die blutigen Handabdrücke auf dem Deck der Viviace , sah auf den amputierten Zeigefinger, der immer noch da lag. »Ihr selbst habt mich zu einem Vestrit gemacht.«
Er lächelte, ohne Freude und ohne Heiterkeit.
»Was hat meine Großmutter gesagt? ›Das Blut lässt sich eben nicht verleugnen.‹ Ja.«
Er bückte sich und hob seinen Zeigefinger auf. Einen Moment musterte er ihn aufmerksam und hielt ihn dann seinem Vater hin. »Dieser Finger wird niemals einen Priesterring tragen«, sagte er. Auf einige mochte er wie trunken wirken, aber Viviace spürte, dass seine Stimme vor Trauer gebrochen war. »Wollt Ihr ihn nehmen, Sir? Als Zeichen Eures Sieges?«
Kapitän Kyles Gesicht lief vor Wut rot an. Viviace vermutete, dass er sein eigenes Fleisch und Blut in diesem Moment beinahe hasste. Wintrow machte einen Schritt auf ihn zu, ein seltsames Leuchten in den Augen. Viviace versuchte zu verstehen, was in dem Jungen vorging. Etwas veränderte sich in ihm, eine Stärke entfaltete sich in ihm. Er erwiderte den Blick seines Vaters, aber in seiner Stimme klang weder Ärger noch Schmerz mit, als er jetzt kühn vortrat. Er war nah genug an seinem Vater, dass der ihn hätte schlagen können. Oder umarmen.
Aber Kyle Haven bewegte sich überhaupt nicht. Seine starre Haltung war eine Ablehnung von allem, was der Junge war, von allem, was er tat. Wintrow wusste in diesem Moment, dass er seinem Vater niemals gefallen würde und dass es seinen Vater auch nicht danach verlangte, von ihm erfreut zu werden. Er hatte ihn immer nur
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