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Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen

Titel: Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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bemerkt hatte, wie sie ihn gefangen hatte. Warum sie es getan hatte, konnte sie nicht erklären. Das einzige, was ihr einfiel, war, dass es ein Teil von Wintrow war und dass sie nicht bereit war, auch nur das kleinste Stück von ihm zu verlieren. Der Finger war winzig im Vergleich zu ihren überlebensgroßen Händen. Es war ein dünnes Stück Knochen, mit Fleisch und Haut überzogen, das am Ende von einem leicht gebogenen Nagel geziert wurde. Selbst in seinem blutigen Zustand war sie von seiner Zierlichkeit und Feinheit fasziniert. Sie verglich ihn mit ihrer eigenen Hand. Ihr Schnitzer war ein fähiger Handwerker gewesen und hatte ihre Gelenke und Nägel und selbst die Sehnen auf den Handrücken ordentlich gearbeitet. Aber es gab kein feines Muster aus Follikeln auf der Rückseite der Finger, keine winzigen Härchen, keine Wirbelmuster auf den Fingerspitzen. Sie hatte zu ihrem Bedauern nur eine schwache Ähnlichkeit mit einer echten Gestalt aus Fleisch und Blut.
    Sie untersuchte ihren Schatz noch eine Weile länger. Dann sah sie verstohlen nach hinten, bevor sie die Hand an die Lippen hob.
    Sie brachte es nicht über sich, ihn wegzuwerfen, aber sie wusste nur einen Platz, an dem sie ihn aufheben konnte. Sie legte ihn auf ihre Zunge und schluckte. Er schmeckte so, wie sein Blut gerochen hatte: nach Salz und Kupfer und auf eine merkwürdige Art wie das Meer selbst. Sie schluckte ihn herunter, damit er zu einem Teil von ihr wurde. Was wohl aus ihm wurde, tief unten in ihrer Speiseröhre aus Hexenholz?
    Dann fühlte sie, wie er absorbiert wurde, auf dieselbe Art, wie auch die Deckplanken sein Blut aufgesogen hatten.
    Viviace hatte noch nie zuvor Fleisch gekostet, da sie weder Hunger noch Durst kannte. Doch als sie Wintrows verstümmelten Finger in sich aufnahm, hatte sie eine Sehnsucht gestillt, für die sie vorher keinen Namen gehabt hatte. »Jetzt sind wir eins«, flüsterte sie.
    In seiner Koje im Vorschiff wälzte sich Wintrow rastlos hin und her. Das Laudanum konnte den pochenden Schmerz in seiner Hand zwar mildern, aber nicht ganz stillen. Seine Haut fühlte sich heiß und trocken an und spannte über den Knochen seines Gesichts und seines Arms. »Eins mit Sa werden«, sagte er mit brüchiger Stimme. Das endgültige Ziel eines Priesters.
    »Ich werde eins mit Sa werden«, wiederholte er entschlossener.
    »Das ist mein Schicksal.«
    Viviace hatte nicht das Herz, ihm zu widersprechen.

    Es regnete. Es war der unerbittlich prasselnde Regen, der das Kennzeichen des Winters in Bingtown war. Er rann über seine geschnitzten Locken und tropfte von seinem Bart auf seine nackte Brust. Paragon kreuzte die Arme und schüttelte den Kopf, dass die Tropfen flogen. Kalt. Kälte war etwas, das er eigentlich nicht fühlen konnte.
    Holz kann nicht frieren, sagte er sich. Mir ist nicht kalt. Nein.
    Es war keine Frage der Temperatur, sondern nur das entnervende Gefühl von Wasser, das ständig über ihn hinwegtröpfelte. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn und schüttelte das Wasser ab.
    »Sagtet Ihr nicht, dass er tot wäre?«
    Eine heisere Altstimme sprach zermürbend nah bei ihm. Das war noch ein Problem, das der Regen ihm bereitete. Das Geräusch war so laut in seinen Ohren, dass es alle anderen wichtigen Geräusche – wie Schritte auf nassem Sand – übertönte.
    »Wer ist da?«, wollte er wissen. Seine Stimme klang ärgerlich.
    Es war besser, den Menschen Ärger zu zeigen als Furcht. Wenn sie Angst witterten, wurden sie kühner.
    Niemand antwortete. Das hatte er auch nicht erwartet. Sie konnten sehen, dass er blind war. Vermutlich würden sie herumschleichen, und er würde nicht wissen, wo sie waren, bevor ihn der erste Stein traf. Er richtete seine ganze Konzentration auf heimliche Schritte. Aber als die zweite Stimme erklang, war das nicht weit von der Stelle, wo die erste gewesen war. Und er erkannte sie sofort an ihrem jamaillianischen Akzent. Mingsley.
    »Das dachte ich auch. Als ich das letzte Mal hier war, hat er sich weder bewegt noch gesprochen. Dav, mein Vermittler, hat mir versichert, dass er noch lebt, aber ich habe ihm misstraut.
    Nun, das wirft natürlich ein vollkommen anderes Licht auf die ganze Angelegenheit.«
    Er räusperte sich. »Die Ludlocks zögern noch mit dem Handel, und jetzt ist mir auch klar warum. Ich dachte, ich würde nur für totes Holz bieten. Mein Angebot war viel zu niedrig. Ich muss ihnen ein neues machen.«
    »Ich glaube, ich habe meine Meinung geändert.«
    Die Stimme der Frau war

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