Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
die Seeschlange zurückgeschwommen und griff sie von der anderen Seite an. Es war kein scharfer Schlag, wie wenn sie gerammt würden, sondern eher ein starker, stetiger Stoß nach oben, wie von einem Hai, der einen Kadaver anstupst, der im Wasser schwimmt. Das Schiff legte sich schwer auf die Seite, und die Männer krabbelten über die Planken.
»Wo ist sie?«, brüllte der Kapitän wütend, während Althea und die anderen im Ausguck mit tränenden Augen in die Dunkelheit stierten. Der kalte Wind fegte um sie herum, und die Wellen wogten um das Schiff. In jedem Wellenkamm glaubte sie eine Schlange zu erkennen. Doch wenn sie genauer hinsah, lösten sie sich in Angst und Phantasie auf.
»Sie ist weg!«, schrie eine der anderen Wachen, und Althea hoffte, dass das stimmte. Dies dauerte nun schon viel zu lange. Zu viele Tage und Nächte mit willkürlichen Angriffen, denen unruhige Stunden trügerischer Ruhe folgten. Manchmal schwammen die Seeschlangen auf den Wogen und schlängelten sich neben dem Schiff her. Immer knapp außerhalb der Reichweite der Bogenschützen. Manchmal waren es bis zu einem halben Dutzend. Ihre Häute schillerten in der Wintersonne, blau, rot, golden und grün. Und manchmal, wie heute Nacht, gab es nur ein monströses Geschöpf, das sie verhöhnte und mühelos mit ihren Leben spielte. Der Anblick von Seeschlangen war nicht neu für Althea. Sie waren früher einmal so selten gewesen wie die Legenden, jetzt jedoch verseuchten sie geradezu bestimmte Gegenden der Äußeren Passage und folgten den Sklavenschiffen sogar durch die Innere Passage. Sie hatte einige gesehen, als sie noch an Bord der Viviace gewesen war. Doch sie hatten sich immer in gebührendem Abstand gehalten und waren nie eine Bedrohung gewesen. Dass sie jetzt ihre Wildheit hautnah erlebte, machte sie für sie zu scheinbar neuen Kreaturen.
Zwischen zwei Atemzügen neigte sich das Schiff weit herüber, sehr weit. Der Horizont kippte, und Althea wurden die Füße unter dem Körper weggeschlagen. Plötzlich hing sie an dem Mast wie eine Fahne. Auf dem geneigten Deck unter ihr brüllten die Matrosen und ruderten heftig mit den Armen, als sie durcheinanderrutschten und -stürzten. Althea hakte sich mit einem Fuß in einer Webeleine in den Wanten fest. Als sich das Schiff einen Moment später noch weiter neigte, war sie gesichert. Die Seeschlange befand sich unter dem Schiff und hob es hoch, während sie es gleichzeitig nach Steuerbord kippte.
»Halt dich fest!«, brüllte jemand, und dann hörte man einen schrillen Schrei, der abrupt abbrach. »Es hat ihn erwischt!«, kreischte jemand, und dann gab es ein Durcheinander von Stimmen, die aufeinander einprasselten. »Hast du das gesehen?
Wer war es? Es hat ihn gepflückt wie eine reife Pflaume! Das hat das Monster also vor!«
Das Schiff richtete sich auf, und in dem Durcheinander hörte sie, wie Brashen fluchte. Dann rief er:
»Sir!«
Seine Stimme klang verzweifelt. »Können wir nicht ein paar Jäger zum Heck schicken, damit es nicht ans Ruder kommt? Wenn es das zerstört…«
»Tu es!«, bellte der Kapitän.
Sie hörte hastige Schritte. Althea hielt sich benommen auf ihrer Aussichtsplatte fest. Ihr war schlecht, und zwar nicht nur von dem plötzlichen Schwanken des Schiffes, sondern von der Unvermitteltheit des Todes, der wie aus dem Nichts zugeschlagen hatte. Die Schlange würde wiederkommen, davon war sie überzeugt. Das Biest würde das Schiff rütteln, wie ein Junge Äpfel von einem Baum schüttelte. Sie glaubte zwar nicht, dass die Seeschlange genug Kraft hatte, das Schiff zum Kentern zu bringen, aber genau wusste sie das auch nicht. Noch nie war ihr das Land so weit weg vorgekommen. Land, festes Land, das sich unter ihr nicht bewegte und das keine heißhungrigen Monster verbarg, die jederzeit hervorstürzen konnten.
Sie blieb auf ihrem Posten, auch wenn ihr nicht gefiel, dass sie nicht sehen konnte, was unter ihr auf Deck passierte. Dann sagte sie sich, dass sie es auch nicht wissen musste. Ihre Aufgabe war es, gut aufzupassen und rechtzeitig die Warnung herauszuschreien, die vielleicht jemandem das Leben retten mochte. Ihre Augen schmerzten von dem ständigen Starren in die Finsternis, und ihre Hände waren nur noch eisige Krallen.
Der Wind entzog dem Körper jegliche Wärme. Aber er blähte auch die Segel und trieb das Schiff voran. Schon bald würden sie diese Gewässer verlassen, die von Seeschlangen nur so wimmelten. Bald.
Es wurde noch finsterer. Wolken verhüllten den
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