Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
der die Leine vertäut gewesen war, riss sich los.
Die Klampe verschwand über Bord, und die zusammengebundenen Fässer, die hinterher rutschten, rissen ein großes Stück Reling mit ins Meer. Die leeren Fässer gingen unter, als wären sie aus Stein und nicht aus Holz. Als das Schiff sich aufrichtete, stürmten alle an die Reling und suchten das Wasser nach einem Lebenszeichen der Seeschlange ab. Die Männer standen da, schweigend und bewegungslos, beobachtend und lauschend. Ein Jäger sagte leise in die Stille: »Das Vieh kann nicht die ganze Zeit unter Wasser bleiben. Nicht mit den ganzen Fässern, die an der Kette hängen.«
Woher wissen die eigentlich, was eine Seeschlange kann und was nicht? fragte sich Althea. Konnten die messerscharfen Zähne der Seeschlange vielleicht doch die Kettenglieder durchtrennen, die das Fleisch an die Fässer banden? Vielleicht war die Schlange ja sogar so stark, dass sie die Fässer bis auf den Meeresgrund ziehen konnte, ohne es überhaupt zu merken.
Wie zur Antwort schrie jemand auf der anderen Seite des Schiffs. »Da! Seht, da sind die Fässer. Sie sind gerade aufgetaucht! Da, jetzt verschwinden sie. Sie ist wieder getaucht!«
Althea wollte das Deck überqueren, wurde aber vom Schrei des Maats aufgehalten. »Ihr da, hört auf zu gaffen! Machen wir lieber, dass wir hier wegkommen, solange das verdammte Biest beschäftigt ist!«
»Ihr wollt es nicht jagen und töten?«, fragte einer der Jäger erstaunt. »Wollt Ihr denn nicht das erste Schiff sein, das den Kopf einer Seeschlange und ihre Haut mit in den Hafen bringt? Ein Mann könnte ein Jahr lang umsonst in allen Tavernen der Welt trinken, wenn er diese Geschichte erzählt!«
»Ich möchte lieber lebend den Hafen erreichen«, entgegnete der Maat gereizt. »Setzt Segel!«
»Käpt’n?«, protestierte der Jäger.
Kapitän Sickel sah auf die Stelle, an der die Seeschlange zuletzt gewesen war. Seine Körperhaltung verriet den Hass, der in ihm brodelte. Althea vermutete, dass er am liebsten die Schlange mit derselben hirnlosen Zähigkeit verfolgt hätte, wie ein Hund auf einer Fährte schnüffelt. Sie blieb schweigend stehen und atmete kaum, während sie im Stillen ihr Mantra herunterleierte: nein, nein, nein, nein, nein.
Gerade als die Jäger anfingen, über Harpunen, Boote und Gefährten zu reden, schüttelte sich der Kapitän, als wäre er aus einem Traum erwacht. »Nein«, sagte er ruhig und bedauernd.
Und dann wiederholte er das Wort, lauter und entschiedener:
»Nein. Es wäre ein überflüssiges Risiko. Wir müssen einen vollen Laderaum löschen. Den wollen wir nicht aufs Spiel setzen. Außerdem habe ich Geschichten gehört, dass allein die Berührung mit der Haut einer Seeschlange die Muskeln eines Menschen lähmt und ihn dem Tode weiht. Lasst die Ausgeburt der Hölle ziehen! Der Klumpen Seebärfleisch, der in ihrem Rachen steckt, wird sie wahrscheinlich töten. Und wenn sie doch zurückkommt… Nun, dann wehren wir uns mit allem, was wir haben. Aber bis dahin machen wir, dass wir hier wegkommen. Von mir aus kann das Vieh die Fässer mit zum Meeresgrund nehmen.«
Althea hätte erwartet, dass die Männer nur allzu gern diesem Befehl gehorcht hätten. Doch stattdessen gingen sie nur zögernd ans Werk und sahen immer wieder zu der Stelle, an der die Seeschlange zuletzt gewesen war. Die Jäger machten aus ihrer Wut und ihrer Frustration keinen Hehl. Einige warfen ihre Bögen wütend zu Boden, während andere bedeutungsvoll ihre Pfeile bereit hielten und über die Reling aufs Meer starrten.
Wenn die Seeschlange noch einmal auftauchte, würden sie es ihr zeigen. Während Althea in die Takelage kletterte, betete sie, dass das Biest wegbleiben möge. Ganz entfernt am Horizont schien die Sonne aus den Tiefen des Meeres aufzusteigen. Sie sah schon einen grauen Schimmer, wo sie bald aufgehen würde.
Es war zwar unlogisch, aber sie redete sich ein, dass sie alle überleben würden, wenn die Sonne aufgegangen war, bevor die Seeschlange zurückkam. Irgendetwas in ihr sehnte sich instinktiv nach dem Tageslicht und danach, dass dieser endlos scheinende Alptraum aufhörte.
Plötzlich durchbrach die Seeschlange die Wasseroberfläche wie ein Stück Holz, das man unter Wasser festgehalten und dann ruckartig losgelassen hatte. Die Kreatur schüttelte heftig den Kopf, und ihr Maul war weit aufgerissen, als sie versuchte, den Haken abzuschütteln. Dabei flogen kleine blutige Schleimtropfen aus ihrer Mähne. Winzige Stücke prallten
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