Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
gegeben, wenn sie sich leidenschaftslos an alles erinnern konnte, was sie in dieser Nacht gesagt und getan hatten. Sie wusste nicht, wem sie die Schuld dafür geben sollte: dem behandelten Bier, dem Schlag auf den Kopf oder dem Cindin. Aber sie war nicht ganz sicher, ob sie sich wirklich so an die Dinge erinnerte, wie sie passiert waren. Zum Beispiel wusste sie einfach nicht, warum in aller Welt sie ihn geküsst hatte.
Vielleicht, dachte sie finster, will ich mich ja auch nicht daran erinnern, dass es überhaupt passiert ist.
»Geht es dir gut?«
Seine Stimme klang ruhig, und seine Worte schienen dadurch eine Doppelbedeutung zu bekommen.
»Ziemlich gut, danke. Und du?«, fragte sie ausgesucht höflich.
Er grinste. Sie konnte es nicht sehen, aber sie hörte es in seiner Stimme. »Mir geht es gut. Wenn wir nach Candletown kommen, wird das hier nur noch wie ein schlechter Traum sein. Wir werden einen trinken und darüber lachen.«
»Vielleicht«, erwiderte sie neutral.
»Althea«, sagte er, doch im selben Moment schüttelte sich das Schiff unter ihnen und begann zu steigen. Sie griff nach dem Geländer und hielt sich krampfhaft fest. Als das Schiff sich neigte, schien das Meer auf sie zuzustürzen. »Weg von dem Geländer!«, fuhr Brashen sie an und stürzte nach achtern.
»Gebt es ihm! Über Bord damit, schmeißt es ihm in den Rachen!«
Das Deck unter ihren Füßen schien sich fast senkrecht in die Luft zu erheben. Überall schrien Seeleute voller Angst und Entsetzen. Auch das Schiff schrie. Es war ein schreckliches Kreischen des Holzes, das es gewöhnt war, von Wasser gestützt zu werden, und jetzt herausgehoben wurde. Diese Biegsamkeit des Schiffes, durch die die Reaper dem Meer überhaupt erst widerstehen konnte, wendete sich jetzt gegen sie. Althea fühlte beinahe den Schmerz der Planken, als die ganze Struktur sich drehte und bog. Die Takelage knarrte, und die Segel rauschten. Althea hing an der Reling, während sie mit beiden Händen Halt suchte. Sie sah auf das geneigte Deck. Es war mit Sand gebürstet, glatt und sauber und bot keinerlei Halt, um zu verhindern, an den Rand des Schiffes zu rutschen. Unter ihr schien die schwarze See plötzlich zu kochen, als der gewaltige Schwanz der Seeschlange auf das Wasser schlug.
Ein Mann über ihr schrie plötzlich in Panik auf. Er konnte sich nicht mehr festhalten und rutschte über das Deck auf sie zu. Er würde sie nicht mitreißen. Wenn sie einfach blieb, wo sie war, konnte ihr nichts passieren. Er würde zwar gegen die Reling prallen und vermutlich über Bord gehen, aber sie war in Sicherheit. Sie musste einfach nur bleiben, wo sie war.
Stattdessen löste sie eine Hand von der Reling und streckte sie nach ihm aus. Er prallte gegen das Holz, und sie erwischte seinen Mantel. Plötzlich schwangen sie beide, nur noch von ihrer Hand gehalten, frei in der Luft. Ein Bein des Matrosen pendelte über dem Meer. »Nein!«, schrie sie, als sie fühlte, wie sich ihre Muskeln von der Anstrengung dehnten. Sie hielten sich aneinander und an dem Schiff fest. Der Mann umklammerte sie so krampfhaft, dass Althea glaubte, er würde ihr die Knochen brechen, als er instinktiv versuchte, über ihren Körper wieder auf das Schiff zu krabbeln. Unter ihr schien das Wasser zu kochen.
Hinter ihr schrien Männer angestrengt auf, und ein großer, von Netzen umhüllter Ball aus Seebärfleisch wurde über die Bordkante gewuchtet. Althea erhaschte einen Blick auf ein Stück Kette, die ihm folgte, und dann rollte das Tau ab. Das Fleisch hatte kaum die Wasseroberfläche berührt, als ein gewaltiges, aufgerissenes Maul aus den Wellen auftauchte und es packte. Althea hätte den schuppigen Hals der Kreatur berühren können, als sie hinter dem Köder hertauchte. Sie sah kurz die Zahnreihen aufblitzen und ein großes Auge, dann glitt der Buckel ihres Rückens unter ihren Füßen hinweg, und die Seeschlange war verschwunden.
Jemand schrie triumphierend, und dann brüllte Brashen:
»Gebt’s ihm! Verdammt, gebt’s ihm!«
So unvermittelt, wie das Deck sich geneigt hatte, so abrupt sank es jetzt wieder zurück.
Das Tau glitt dabei über die Planken, als hätten sie einen Anker gesetzt. Althea und der andere Matrose saßen plötzlich auf der Reling, statt von ihr herunterzubaumeln. Sie bemühten sich, ganz an Bord zu kommen. Plötzlich spannte sich das Ködertau, und das ganze Schiff zitterte, als der Haken ins Fleisch eindrang.
Dann kreischte Holz, etwas splitterte, und die große Klampe, an
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