Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
den Kopf. Hilflose Weiber. Warum das Amulett wohl darauf bestanden hatte, dass er sie mitnahm?
Natürlich hatte er den Glücksbringer in dieser Angelegenheit nicht etwa um Rat gefragt. Das verdammte Ding hatte ihm einfach ungebeten seine Meinung aufgedrängt, und zwar nicht einmal, sondern mehrmals. »Nimm Etta mit. Du musst Etta mitnehmen«, hatte es gefordert. Und jetzt? Vermutlich musste er sich jetzt auch noch um sie kümmern.
»Komm weiter«, sagte er entschlossen. »Solange du auf dem Pfad bleibst, kann dir nichts geschehen.«
Wintrow rannte. Er floh nicht vor Etta und Kennit, im Gegenteil. Er kam sich fast wie ein Feigling vor, dass er sie dort allein gelassen hatte. Nein, er flüchtete vor dem Wald selbst, vor der überwältigenden Schönheit der bedrohlichen Blumen und den intensiven Düften, die ihn sowohl lockten als auch abstießen. Er floh sogar von dem Rascheln der Blätter, die in dem heißen Hauch des Windes von seinem Tod zu flüstern schienen. Er rannte, und sein Herz hämmerte heftig in seiner Brust, aber mehr vor Angst als vor Anstrengung. Er lief, bis ihn der Pfad auf eine ausgedehnte Ebene führte. Vor ihm erhob sich plötzlich der blaue Himmel über dem offenen Meer. Ein halbkreisförmiger Strand erstreckte sich von einem steilen, zackigen Kliff zu einem anderen. Schwer atmend blieb er stehen und fragte sich, was er jetzt tun sollte.
Kennit hatte ihm nur wenig erzählt. »Es ist ganz einfach. Du gehst über den Strand und hebst auf, was dich interessiert. Am anderen Ende des Strandes wird dich ein Anderer begrüßen. Er wird dich nach dem Stück Gold fragen. Gib es ihm und lege es ihm einfach auf die Zunge. Dann wird er dir seine Prophezeiung mitteilen.« Kennit hatte seine Stimme skeptisch gesenkt. »Manche Menschen behaupten, dass es ein Orakel auf der Insel gäbe. Es wäre eine Priesterin, meinen die einen, andere glauben, es handle sich um eine gefangene Gottheit. Die Legende sagt, dass sie die vollständige Vergangenheit kennt, alles, was jemals geschehen ist. Und da sie alles weiß, was gewesen ist, kann sie auch in groben Zügen die Zukunft vorhersagen. Ich bezweifle allerdings, dass es wahr ist. Als ich hier gewesen bin, habe ich nichts dergleichen gesehen. Der Andere wird uns mitteilen, was wir wissen müssen.«
Als Wintrow mehr Einzelheiten hatte herausfinden wollen, hatte Kennit unwirsch reagiert. »Hör auf zu zaudern, Wintrow. Wenn die Zeit kommt, wirst du wissen, was du zu tun hast.
Wenn ich dir alles sagen könnte, was dich auf der Insel erwartet und was du dort tust, dann brauchten wir nicht dorthin zu segeln. Du kannst dich nicht immer drauf verlassen, dass andere für dich leben und denken.«
Wintrow hatte sich verneigt und den Tadel demütig akzeptiert.
Kennit sagte seit einiger Zeit immer häufiger solche Dinge zu ihm. Manchmal hatte Wintrow das Gefühl, als hege der Pirat einen Groll gegen ihn, aber er wusste nicht, was der Grund sein könnte. Seit Divvytown hatte er akzeptiert, dass sich viel mehr hinter Kennit verbarg, als er jemals vermutetet hätte. Er war dem Piraten einen langen Nachmittag nicht von der Seite gewichen und hatte einen Beutel mit Stäben und einen Holzhammer mitgeschleppt. Kennit hatte Entfernungen abgemessen und dann mit seinem Holzbein ein Loch in den Boden gebohrt, wo er den Stab hineingetrieben haben wollte. Einige Löcher markierten den Rand einer Straße, andere die Ecken von Häusern. Als sie fertig waren und auf ihr Werk zurückblickten, war Kennit wie gebannt gewesen. Wintrow stand neben ihm und hatte versucht zu erkennen, was Kennit erblickte. Schließlich brach Kennit das Schweigen. »Jeder Narr kann eine Stadt niederbrennen«, bemerkte er. »Man sagt, dass Igrot der Schreckliche mehr als zwanzig Städte niedergebrannt hat.« Er schnaubte verächtlich. »Ich werde hundert Städte gründen. An mich wird man sich nicht erinnern, wenn man Asche sieht.«
In dem Moment hatte Wintrow ihn als einen Mann akzeptiert, der eine Vision hatte. Mehr noch. Kennit war Sas Werkzeug.
Wintrow ließ seinen Blick langsam über den Strand gleiten. Kennit hatte ihm befohlen, über den Strand zu gehen. Aber wo sollte er anfangen? War das wichtig? Er zuckte mit den Schultern, hielt sein Gesicht in den Wind und ging los. Das Wasser lief immer noch ab. Als er die Spitze des sichelförmigen Strandes erreicht hatte, drehte er sich um und begann mit seiner Suche. Er würde den ganzen Strand ablaufen, um sein Schicksal zu finden.
Die Sonne brannte unbarmherzig
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