Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
keinen Grund, bei ihrer Wache an Deck zu erscheinen, obwohl er eigentlich schlafen sollte. Sie hätte es ihm verzeihen können, wenn ein Sturm ihre Mannschaft bis zum Äußersten gefordert hätte, aber das Wetter war nur unangenehm, nicht gefährlich. Zweimal begegnete sie ihm bei ihrem Gang über das Deck. Beim ersten Mal hatte er sie angesehen und »Guten Abend« gesagt. Sie hatte den Gruß steif erwidert und war weitergegangen. Offenbar war er zum Vordeck unterwegs. Vielleicht, dachte sie ironisch, »beobachtet« er ja Jek bei ihrer Arbeit.
Als sie ihm das zweite Mal begegnete, war es ihm offensichtlich unangenehm. Er war stehen geblieben und hatte irgendwelche unverbindlichen Kommentare über das Wetter abgegeben. Sie stimmte zu, dass es unangenehm war, und wollte weitergehen.
»Althea.« Er hielt sie auf.
Sie drehte sich zu ihm um. »Sir?«, fragte sie förmlich.
Er starrte sie nur an. Über sein Gesicht huschten die Schatten des schwankenden Lichts der Schiffslaterne. Sie sah, wie er den kalten Regen von den Wimpern blinzelte. Geschah ihm recht. Er hatte keinen Grund, bei diesem Wetter hier auf Deck herumzulaufen. Sie sah, wie er nach einer Ausflucht suchte. Er holte Luft. »Ich wollte dich wissen lassen, dass ich am Ende deiner Wache das Verbot aufhebe, mit der Galionsfigur zu reden.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, ob es Paragon überhaupt beeindruckt hat. Manchmal fürchte ich, dass die Isolierung ihn nur noch in seiner trotzigen Haltung bestärkt. Also hebe ich den Befehl auf.«
Sie nickte knapp. »Das sagtet Ihr bereits. Ich habe es schon beim ersten Mal verstanden, Sir.«
Er stand da, als wartete er darauf, dass sie noch etwas sagte.
Aber ein Zweiter Maat hatte dem Kapitän zu dieser Ankündigung nichts weiter zu sagen. Er wollte einen Befehl ändern, und sie würde dafür sorgen, dass ihre Mannschaft ihn befolgte.
Althea sah ihn weiterhin aufmerksam an bis er kurz nickte und wegging. Danach hatte sie sich wieder um ihre Arbeit gekümmert.
Also durften sie wieder mit Paragon reden. Sie wusste nicht, ob sie das erleichterte oder nicht. Vielleicht würde es ja Ambers Laune heben. Die Schiffszimmerin grübelte nur vor sich hin, seit Paragon den Piraten getötet hatte. Wenn sie darüber sprachen, schob sie immer Lavoy die Schuld daran zu und behauptete, der Maat habe das Schiff dazu angestiftet. Althea persönlich konnte dem nicht wirklich widersprechen, aber ein Zweiter Maat durfte einer solchen Behauptung auch nicht zustimmen. Aus diesem Grund sagte sie nichts dazu, was Amber nur noch mehr aufregte.
Sie fragte sich, was die Schiffszimmerin wohl als Erstes sagen würde, wenn sie mit Paragon sprach. Würde sie ihn tadeln oder von ihm verlangen, dass er sich erklärte? Althea wusste, was sie tun würde. Sie würde die Angelegenheit so behandeln, wie sie alle Sünden Paragons behandelt hatte. Sie würde es ignorieren. Dem Schiff gegenüber würde sie nichts davon erwähnen, genauso wenig, wie sie davon gesprochen hatte, dass es zweimal gekentert war und die gesamte Mannschaft umgebracht hatte. Einige Taten waren einfach zu monströs, um darüber zu sprechen. Paragon wusste außerdem genau, wie sie seine Handlungen fand. Er war ein altes Lebensschiff, das mit sehr viel Hexenholz auch in seinem Inneren gebaut worden war. Sie konnte nichts an ihm berühren, ohne ihm ihr Entsetzen und ihre Bestürzung mitzuteilen. Traurigerweise reagierte er darauf nur mit Trotz und Wut. Er hielt sein Verhalten offenbar für richtig. Und er war zornig darüber, dass kein anderer diese Meinung teilte. Althea fügte das ihrer Liste über die Rätsel hinzu, die den Paragon betrafen.
Sie ging langsam über das Deck, fand jedoch nichts an der Arbeit ihrer Leute auszusetzen. Es wäre eine Erleichterung gewesen, auch nur eine kleine Aufgabe zu entdecken. Stattdessen kehrten ihre Gedanken wieder zur Viviace zurück. Mit jedem Tag, der verstrich, schwanden auch ihre Hoffnungen, ihr Schiff wiederzubekommen. Ihr Schmerz, von ihrem Lebensschiff getrennt zu sein, war mittlerweile ein alter Schmerz. Er machte sich tief in ihrem Inneren bemerkbar, wie ein Wunde, die nicht heilen wollte.
Wenn ich mein Schiff zurückbekomme, redete sie sich ein, wird alles gut. Wenn sie erst einmal das Deck der Viviace unter ihren Füßen spürte, spielten all ihre anderen Sorgen keine Rolle mehr. Sie konnte Brashen vergessen. Heute Abend schien jedoch ihr Traum, die Viviace wiederzubekommen, besonders hoffnungslos. Nach dem, was der Pirat ihr erzählt
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