Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
sollte.
Selden lehnte sich an sie. Abwesend hob sie die Hand und strich ihm über die Schulter. Ganze Viertel der Stadt waren nur noch geschwärzte Ruinen, verbrannte Skelette von Häusern, die im Regen glitzerten. Der Junge lehnte sich noch fester an sie. »Geht es Großmutter gut?«, fragte er gedämpft.
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie müde. Sie war so müde, ihm immer wieder dieselben Worte sagen zu müssen: Ich weiß nicht, ob dein Vater noch lebt. Ich weiß nicht, ob dein Bruder noch lebt. Ich weiß nicht, was mit Malta geschehen ist. Der Kendry hatte den Regenwildfluss bis zur Mündung abgesucht und nichts gefunden. Auf Reyns hartnäckiges Bitten hin hatte er noch einmal kehrtgemacht und den Fluss bis fast nach Trehaug erneut abgesucht. Aber sie hatten keine Spur von dem kleinen Boot gefunden, das Reyn angeblich gesehen hatte.
Keffria hatte den Gedanken niemals laut ausgesprochen, aber sie fragte sich, ob Reyn sich das nicht eingebildet hatte. Vielleicht wünschte er sich so sehnsüchtig, dass Malta lebte, dass er sich selbst getäuscht hatte. Keffria wusste, wie sich so etwas anfühlte. In Trehaug war Jani Khuprus an Bord des Kendry gekommen. Bevor sie die Regenwildstadt verließen, hatte Jani eine Brieftaube nach Bingtown geschickt und das Händler-Konzil darüber informiert, dass sie den Satrapen nicht gefunden hätten, aber weitersuchten.
Während der Fahrt auf dem Regenwildfluss hatte sie jeden Abend an Deck verbracht und in die Abenddämmerung gestarrt.
Immer wieder hatte sie geglaubt, ein winziges Ruderboot auf dem Fluss zu erkennen. Einmal war sie sogar sicher gewesen, dass Malta aufrecht dastand und hilfesuchend die Hand hob.
Aber es war nur ein Baumstamm gewesen, den der Strom vom Ufer losgerissen hatte. Eine Wurzel ragte anklagend in die Luft, während der Stamm flussabwärts trieb.
Selbst nachdem der Kendry die Flussmündung hinter sich gelassen hatte, behielt Keffria ihre Nachtwachen an Deck bei. Sie traute dem Ausguck nicht, denn schließlich suchte er nicht mit den scharfen Blicken einer Mutter. In der letzten Nacht hatte sie während eines heftigen Regens ein chalcedeanisches Schiff gesehen, das der Kendry mit Leichtigkeit hinter sich ließ. Dieses Schiff war allein gewesen, aber auf ihrer Fahrt hatte der Ausguck zuvor bereits andere Galeonen in Zweier-und Dreiergruppen gemeldet sowie zwei große chalcedeanische Galeeren.
Alle hatten den Kendry ignoriert oder ihn nur der Form halber verfolgt. Worauf warten diese Plünderer?, hatte sich der Kapitän gefragt. Zogen sie sich vor der Flussmündung zusammen?
Oder segelten sie nach Bingtown? Gehörten sie zu einer Flotte, die die Verwunschenen Ufer übernehmen wollte? Reyn und Jani hatten sich an den nutzlosen Spekulationen des Kapitäns beteiligt, aber Keffria sah darin keinen Sinn.
Malta war verschwunden. Keffria wusste nicht, ob sie in der versunkenen Stadt gestorben oder im Fluss untergegangen war.
Dass sie es niemals herausfinden würde, fraß wie ein Krebsgeschwür an ihr. Würde sie jemals erfahren, was aus Wintrow und Kyle geworden war? Sie versuchte, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass sie noch lebten, aber das fiel ihr schwer.
Diese Hoffnung kam ihr vor wie ein zu steiler Berg, den sie nicht erklimmen konnte. Und sie fürchtete, dass sie in einen tiefen Abgrund fiel, wenn diese Hoffnung versagte. Also lebte sie lieber, ohne irgendetwas zu fühlen.
Reyn Khuprus stand neben seiner Mutter. Der Regen hatte seinen Schleier durchnässt, und wenn der Wind ihn bewegte, klatschte er leicht gegen sein Gesicht. Da lag Bingtown. Es war genauso zerstört, wie er es den Nachrichten entnommen hatte, die die Brieftauben nach Trehaug gebracht hatten. Er lauschte in sich hinein, auf ein Gefühl, das dieser Zerstörung entsprach, aber er fand nichts.
»Es ist schlimmer, als ich befürchtet habe«, sagte seine Mutter neben ihm. »Wie kann ich das Konzil von Bingtown um Hilfe bitten, wenn ihre eigene Stadt in Trümmern liegt und ihre Küste von chalcedeanischen Schiffen bedroht wird?«
Denn das war ein Teil ihrer Mission, die sie hier zu erfüllen hatten. Jani Khuprus hatte schon oft das Regenwildvolk bei ihren Verwandten in Bingtown repräsentiert, aber selten mit einem so schwerwiegenden Auftrag. Nachdem sie sich formell bei dem Konzil für den unglücklichen Verlust des Satrapen Cosgo und seiner Gefährtin entschuldigt hatte, wollte sie eigentlich um Hilfe für die Regenwildbewohner von Trehaug bitten. Die Zerstörung der uralten
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