Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
Klinge zum Opfer gefallen. Altheas Staunen schien dem Fischhändler zu schmeicheln, denn er erzählte die Geschichte noch dreimal und fügte jedes Mal mehr Einzelheiten hinzu. Beim letzten Mal sagte er dann noch: »Und der arme Bursche wusste sehr gut, was Sklaverei bedeutet.
Denn sein eigener Vater hatte ihn versklavt. Ja, und ihm das Abbild des Schiffs auf die Wange tätowieren lassen. Ich habe gehört, dass Kennit das Herz des Lebensschiffes und das des Jungen gleichzeitig für sich gewonnen hat, als er sie beide befreite.«
Althea fehlten die Worte. Wintrow? Das hatte Kyle Wintrow angetan, seinem eigenen Sohn, ihrem Neffen?
Brashen hätte sich beinahe an seiner Fischsuppe verschluckt.
»Und welches Schicksal hat Kennit einem so grausamen Vater zugedacht?«, fragte er erstickt.
Der Mann zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Zweifellos eins, das er verdient hat. Ab über die Planke zu den Seeschlangen, zusammen mit dem Rest der Matrosen. Das macht er mit der Mannschaft jedes Sklavenschiffes, das er kapert.« Er sah Brashen fragend an: »Ich dachte eigentlich, das wüsste jeder.«
»Und den Jungen hat er leben lassen?«, fragte Althea leise.
» Er gehört nicht zur Mannschaft. Das habe ich doch schon erzählt. Er war selbst ein Sklave auf dem Schiff.«
»Aha.« Sie sah Brashen an. »Das macht Sinn.« Jetzt begriff sie, wieso sich die Viviace gegen Kyle gestellt und Kennit akzeptiert hatte. Der Pirat hatte ihren Wintrow gerettet und beschützt. Natürlich war das Schiff jetzt loyal gegenüber Kennit.
Was bedeutete das für sie? Einen Moment lang überlegte sie, ob sie jetzt frei war. Hatte sie noch das Recht, die Viviace zu »retten«, wenn das Schiff mit Wintrow an Bord glücklich war und sowohl Kennit als auch das Leben als Piratenschiff akzeptierte? Konnte sie einfach nach Hause gehen und ihrer Mutter und ihrer Schwester sagen, dass ihre Mission gescheitert sei?
Dass sie ihr Familienschiff niemals gefunden habe? Einen Augenblick spielte sie eine noch abenteuerlichere Möglichkeit durch. Musste sie überhaupt nach Hause zurückkehren? Konnten Brashen, Paragon und sie nicht so weitermachen, wie sie angefangen hatten?
Dann dachte sie daran, wie die Viviace unter ihren Händen erwacht war, als sie den letzten Pflock in die Galionsfigur geschlagen hatte, den Pflock, den ihr Vater mit seiner Seele belebt hatte, als er starb. Sie gehörte ihr. Sie gehörte nicht Wintrow und schon gar nicht Kennit. Die Viviace war Altheas Lebensschiff, und sie gehörte in einer Art und Weise zu ihr, wie niemand sonst sie für sich beanspruchen konnte. Wenn tatsächlich etwas an dem Klatsch dran war, den sie vorher gehört hatten, dann herrschte in Bingtown im Moment eine Art Rebellion. Und in dem Fall brauchte ihre Familie das Lebensschiff noch dringender als je zuvor. Althea würde es zurückfordern. Das Schiff würde sicher lernen, sie wieder zu lieben.
Und Wintrow konnte wieder zurück zu seiner Familie. Kyle trug sicher mehr Schuld am Tod der Mannschaft als Kennit.
Loyalität gegenüber ihrer Familie hatte die Männer dazu bewogen, an Bord der Viviace zu bleiben. Und Kyles Verrat an den Werten ihres Vaters hatte sie letztendlich zum Tode verurteilt. Sie trauerte nicht um Kyle; dafür hatte er ihr und ihrer Familie zu viel Schmerzen zugefügt. Nur für Keffria empfand sie Mitleid. Aber es ist besser, dachte Althea grimmig, wenn sie den Tod ihres Ehemanns betrauert, als ein ganzes Leben mit ihm zu bejammern.
Die Zeit schien Paragon wie eine glitschige Kreatur durch die Finger zu schlüpfen. Ruhte er im Hafen von Divvytown, oder schraubte er sich mit seinen breiten Flügeln auf einer Luftströmung in die Höhe? Wartete er darauf, dass der junge Kennit zurückkehrte, und hoffte verzweifelt, dass der Junge diesmal unverletzt sein möge, oder erwartete er Brashen und Althea wieder an Bord? Damit sie ihn dorthin führten, wo er endlich Rache nehmen konnte? Die ruhige Dünung in der Lagune, das nachlassende Prasseln des Regens, die Gerüche und die Geräusche von Divvytown, die aufmerksame Ruhe seiner Mannschaft, all das versenkte ihn in einen wartenden Zustand, der beinahe dem Schlaf glich.
Tief unten in seinem Laderaum, dort, wo die Kurve des Bugs einen kleinen Hohlraum mit dem Deck bildete, dort war der Blutplatz. Ein Mann konnte dort weder stehen noch auf allen vieren krabbeln, aber ein kleiner, verprügelter Junge fand dort leicht Schutz. Dann lag er zusammengekauert da, während sein Blut auf Paragons Hexenholz tropfte
Weitere Kostenlose Bücher