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Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt

Titel: Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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und sie ihr gemeinsames Elend teilten. Hier konnte Kennit sich erholen und kurz schlafen, weil er wusste, dass sich ihm niemand unbemerkt nähern konnte. Wenn Igrot nach ihm brüllte, weckte Paragon ihn sofort auf. Schnell wie ein Kaninchen hüpfte Kennit dann aus seinem Versteck und trat vor den Piraten. Es war besser, seinen Zufluchtsort zu verlassen und sich Igrot zu stellen, als zu riskieren, dass die Mannschaft ihn suchte und sein Refugium entdeckte. Manchmal schlief Kennit sogar hier. Dann drückte er seine kleinen Hände gegen den mächtigen Hexenholzbalken, der über die ganze Schiffslänge reichte, und Paragon konnte ihn bewachen, während er seine Träume teilte.
    Und seine Albträume.
    In dieser Zeit hatte Paragon seine einzigartige Fähigkeit entdeckt. Er konnte die Schmerzen wegnehmen, die Albträume und sogar die quälenden Erinnerungen. Natürlich nicht vollständig. Hätte er dem Jungen alle Erinnerungen genommen, wäre aus Kennit ein kompletter Idiot geworden. Aber er konnte die Schmerzen dämpfen, so wie er auch das Blut aufnahm, wenn der Junge von den Schlägen blutete. Er konnte die Qualen lindern und die Schärfe von Kennits Gedächtnis abmildern.
    All das konnte er tun und tat es auch – für den Jungen. Allerdings bedeutete es, dass er alles, was er Kennit nahm, selbst aufnehmen musste. Die beißende Demütigung und Entwürdigung, der stechende Schmerz, die erschreckende Verwirrung und der sengende Hass, all das wurden Paragons Gefühle, die er für immer tief in seinem Innersten verbarg. Kennit hinterließ er nur die eiskalte Entschlossenheit, dass er das alles überstehen würde. Eines Tages sollten seine eigenen Unternehmungen für immer die Erinnerung an Igrot den Schrecklichen tilgen.
    Irgendwann, so beschloss Kennit, würde er all das wiederherstellen, was Igrot zerstört und zerbrochen hatte. Dann würde es so sein, als habe der böse alte Pirat niemals existiert. Nicht einmal an seinen Namen sollten sich die Menschen noch erinnern. Alles, was Igrot jemals beschmutzt hatte, war dann entweder verborgen oder zum Schweigen gebracht.
    Selbst das Lebensschiff von Kennits Familie.
    So hatte es eigentlich sein sollen.
    Dieses Eingeständnis rührte alle Schmerzen auf und schob sie herum wie ungesicherte Ladung, die während eines Sturms in seinem Bauch polterte. Das Ausmaß seines Scheiterns überwältigte ihn. Er hatte seine Familie betrogen, und er hatte das letzte treuherzige Mitglied seines eigenen Bluts im Stich gelassen.
    Er hatte versucht, loyal zu sein, er hatte auch versucht, tot zu sein, aber dann waren die Seeschlangen gekommen. Sie hatten ihn bedrängt, ihn angestoßen, ohne Worte mit ihm geredet. Sie hatten ihn verwirrt, ihm klargemacht, wem er eigentlich Loyalität schuldete. Sie hatten ihn verängstigt, und wegen dieser Angst hatte er sein Versprechen vergessen, sein Pflichten vergessen, alles vergessen außer seinem Bedürfnis, sich von seiner Familie trösten und bestärken zu lassen. Also war er nach Hause getrieben. Langsam, im Verlauf vieler Jahre, war er nach Hause getrieben, war freundlichen Strömungen gefolgt, bis er als Wrack an die Strände von Bingtown zurückgekehrt war.
    Dort war er für seine Treulosigkeit bestraft worden. Wie sollte er wütend auf Kennit sein? Hatte Paragon ihn nicht zuerst hintergangen? Er stöhnte laut und klammerte sich an seine Reglosigkeit und sein Schweigen wie an einen Schild.
    Er hörte das leise Geräusch von hastigen Schritten auf dem Deck. Zwei schlanke Hände legten sich auf seine Reling. »Paragon? Was hast du?«
    Er konnte es ihr nicht sagen. Sie würde es nicht verstehen, und außerdem würde er sein Wort noch mehr brechen, wenn er sprach. Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Seine Schultern bebten, und seine Hände zitterten.
    »Da, ich hab's euch doch gesagt, oder nicht? Er ist es.« Die Stimmen kamen von unten. Jemand war da unten nah am Bug und starrte zu ihm hinauf. Sie starrten und johlten höhnisch und verspotteten ihn. Schon bald würden sie Dinge werfen. Tote Fische und verfaulte Früchte.
    »Ihr da unten, haltet Euch von dem Schiff fern!«, warnte Amber sie ernst. »Rudert Eure Gig hier weg!«
    Sie achteten nicht auf sie. »Wenn das Igrots Schiff gewesen sein soll, wo ist dann Igrots Stern?«, wollte jemand wissen. »Er hat allem, was ihm gehörte, diesen Stern aufgedrückt.«
    Das lange vergangene Entsetzen darüber, wie dieser Stern in seine Brust geschnitzt worden war, wurde von der Erinnerung

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