Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
dankte ihr für ihre Vorschläge. Als die Reihe an Roed Caern kam, hielt sie seine Finger einen Augenblick länger fest. Als er sie überrascht ansah, formte sie lautlos mit den Lippen die Worte: »Kommt später wieder!« Seine dunklen Augen blitzten auf, aber er sagte kein Wort.
Nachdem der Page sie hinausgeführt hatte, seufzte Serilla auf.
Sowohl vor Erleichterung als auch vor Befriedigung. Sie würde hier überleben, und Bingtown würde ihr gehören, ganz gleich, was aus dem Satrapen wurde. Mit zusammengepressten Lippen dachte sie über Roed Caern nach. Dann erhob sie sich rasch und betätigte die Glocke für die Dienerschaft. Das Dienstmädchen sollte ihr helfen, sich formeller zu kleiden. Roed Caern flößte ihr Angst ein. Dieser Mann war zu allem fähig. Sie wollte nicht, dass er ihre Einladung missverstand. Sie würde kühl und formell bleiben, wenn sie ihn beauftragte, Ronica Vestrit und ihre Familie aufzuspüren.
3. Wintrow
Die geschnitzte Galionsfigur blickte starr geradeaus, während das Schiff durch die Wellen pflügte. Der Wind blähte die Segel und trieb das Schiff vorwärts. Der Bug schäumte stetig Gischt unter ihr auf. Die Tropfen perlten von den Wangen und den schwarzen Locken von Viviace ab.
Sie hatten Anderland und auch die Kamminsel hinter sich gelassen. Die Viviace segelte nach Westen, weg von der offenen See und auf die trügerische Enge zwischen dem Schildwall und dem Archipel zu. Hinter der Inselkette befand sich die geschützte Innere Passage, der Zugang zur relativen Sicherheit der Pirateninsel.
Die Piratenmannschaft bewegte sich behände in der Takelage, bis sechs Segel sich im Wind blähten. Kapitän Kennit hielt mit seinen langen Fingern die Bugreling umklammert und hatte seine blauen Augen zusammengekniffen. Die Gischt durchnässte sein weißes Hemd und seine elegante Brokatjacke, aber er achtete nicht darauf. Wie die Galionsfigur starrte er geradeaus, als könnte er allein durch seine Willenskraft das Schiff zu noch größerer Geschwindigkeit antreiben.
»Wintrow braucht einen Heiler«, erklärte Viviace unvermittelt. »Wir hätten den Sklavenfeldscher von der Brummbär behalten sollen«, fügte sie wehmütig hinzu. »Wir hätten ihn zwingen sollen, mit uns zu kommen.« Die Galionsfigur des Lebensschiffes verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah nicht zu Kennit, sondern hielt ihren Blick unverwandt aufs Meer gerichtet. Sie presste die Kiefer fest zusammen.
Der Piratenkapitän holte tief Luft und vermied jede Verärgerung in seiner Stimme. »Ich kenne deine Ängste«, sagte er.
»Aber du musst sie überwinden. Wir sind Tage von jedweder Siedlung entfernt. Bis wir die nächste erreichen, ist Wintrow entweder auf dem Weg der Besserung oder tot. Wir sorgen so gut wir können für ihn, Schiff. Seine eigene Stärke ist vielleicht unsere größte Hoffnung.« Etwas spät fiel ihm ein, sie zu trösten, und er fuhr freundlicher fort: »Ich weiß, das du dir um den Jungen Sorgen machst. Ich bin genauso besorgt wie du. Lass dir eins ein Trost sein, Viviace: Er atmet. Und sein Herz schlägt. Er trinkt Wasser und pisst es aus. Das sind alles Zeichen dafür, dass ein Mann leben will. Ich habe genug verletzte Männer gesehen, um das zu wissen.«
»Das hast du mir schon gesagt«, erwiderte sie scharf. »Ich habe dir zugehört. Und jetzt bitte ich dich, hör du mir zu: Seine Verletzung ist keine gewöhnliche Wunde. Sie geht weit über Schmerzen oder eine bloße Verwundung seines Körpers hinaus. Wintrow ist nicht hier, Kennit. Ich kann ihn überhaupt nicht wahrnehmen.« Ihre Stimme begann zu beben. »Und solange ich ihn nicht fühlen kann, kann ich ihm nicht helfen. Ich kann ihm weder Trost noch Kraft geben. Ich bin hilflos. Und wertlos für ihn.«
Kennit hielt seine Ungeduld mühsam im Zaum. Hinter ihnen brüllte Jola die Männer wütend an und drohte, ihnen die Haut von den Rippen zu schneiden, wenn sie sich nicht anstrengten.
Verschwendeter Atem, dachte Kennit. Wenn der Erste Maat es bei einem von ihnen einfach macht, braucht er sie nie wieder zu bedrohen.
Kennit verschränkte die Arme vor der Brust und beherrschte sich. Bei dem Schiff konnte er sich keine Strenge erlauben.
Trotzdem fiel es ihm schwer, seine Verärgerung im Zaum zu halten. Die Sorge um den Jungen fraß schon wie ein Geschwür an ihm. Er brauchte Wintrow, das war ihm klar. Wenn er an ihn dachte, empfand er eine beinahe mystische Verbindung zu ihm. Der Junge war mit seinem Glück und seiner Bestimmung als König
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