Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
eng verknüpft. Manchmal kam es ihm so vor, als wäre Wintrow eine jüngere, unschuldigere Version von ihm selbst, ungezeichnet von den Wunden des Lebens. Wenn er so an Wintrow dachte, empfand er eine seltsame Zärtlichkeit für ihn. Er konnte ihn schützen und der freundliche Mentor für den Jungen sein, den er selbst niemals gehabt hatte. Aber um das zu bewerkstelligen, musste er der einzige Beschützer des Jungen sein. Das Band zwischen Wintrow und dem Schiff bildete für Kennit eine doppelte Barriere. Solange es existierte, gehörten ihm weder das Schiff noch der Junge vollkommen.
»Du weißt, dass der Junge an Bord ist«, erklärte er entschieden. »Du hast uns selbst aus dem Wasser geholt und gerettet.
Du hast gesehen, wie er an Bord gezogen wurde. Glaubst du, ich würde dich belügen und dir sagen, er wäre am Leben, wenn es nicht stimmte?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich weiß, dass du mich nicht belügen würdest. Und außerdem glaube ich, wüsste ich, wenn er gestorben wäre.« Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre schweren Locken flogen. »Wir waren so lange so eng miteinander verbunden. Ich kann dir nicht klarmachen, wie es sich anfühlt, zu wissen, dass er an Bord ist, und ihn dennoch nicht spüren zu können. Es ist, als würde ein Teil von mir fehlen…«
Ihre Stimme verklang. Sie hatte vergessen, zu wem sie sprach. Kennit stützte sich schwerer auf seine improvisierte Krücke und stampfte dreimal mit seinem Holzbein auf das Deck. »Du glaubst, ich kann mir nicht vorstellen, was du empfindest?«, fragte er sie.
»Ich weiß, dass du es kannst«, gab sie nach. »Ach, Kennit, was ich nicht ausdrücken kann, ist, wie allein ich mich ohne ihn fühle. Jeder bösartige Traum, der mich jemals verfolgt hat, kommt jetzt aus den Winkeln meines Verstandes gekrochen.
Sie reden auf mich ein und verspotten mich. Ihre bissigen Bemerkungen verwirren mich so, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin.« Sie hob ihre großen Hände aus Hexenholz und presste ihre Handflächen gegen die Schläfen. »Ich habe mir so oft eingeredet, dass ich Wintrow nicht mehr brauche. Ich weiß, wer ich bin, und ich glaube, dass ich weit größer bin, als er verstehen kann.« Sie seufzte verärgert. »Er kann einen so aufregen!
Er äußert Gemeinplätze und überschüttet mich mit Religion, bis ich schwöre, dass ich ohne ihn glücklicher dran wäre. Aber wenn er dann nicht bei mir ist und ich mich damit auseinandersetzen muss, wer ich wirklich bin…« Sie schüttelte stumm den Kopf.
Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. »Als ich den Schleim der Seeschlange von der Gig an meinen Händen hatte…« Sie verstummte. Als sie weitersprach, hatte sich ihre Stimme verändert. »Ich habe Angst. In mir herrscht eine schreckliche Furcht, Kennit.« Sie drehte sich plötzlich um und sah ihn über ihre nackte Schulter an. »Ich fürchte diese Wahrheit, die in mir lauert. Ich fürchte mich davor, meine wahre Identität vollkommen zu erkennen. Ich zeige der Welt ein bestimmtes Gesicht, aber in mir verbirgt sich weit mehr. Es lauern noch andere Gesichter dahinter. Ich spüre eine Vergangenheit hinter meiner Vergangenheit. Wenn ich mich nicht vor ihr schütze, wird sie hervorbrechen und alles verändern, was ich bin. Dennoch ergibt das keinen Sinn. Wie könnte ich jemand anders sein als die, die ich jetzt bin? Wie könnte ich mich selbst fürchten? Ich verstehe nicht, wie ich so etwas empfinden kann. Verstehst du das?«
Kennit verschränkte die Arme noch fester vor seiner Brust und log. »Ich glaube, du neigst zu einer überbordenden Fantasie, meine Seelady. Das ist alles. Vielleicht quälen dich ja auch Gewissensbisse. Ich selbst jedenfalls schelte mich dafür, dass ich Wintrow mit nach Anderland genommen habe, wo er einer solchen Gefahr ausgesetzt war. Für dich muss das noch viel schlimmer sein. Du warst in letzter Zeit distanziert zu ihm. Mir ist klar, dass ich zwischen dich und Wintrow getreten bin. Du musst entschuldigen, dass es mir nicht Leid tut. Und da du jetzt mit der Möglichkeit konfrontiert wirst, ihn zu verlieren, weißt du erst zu schätzen, wie viel du ihm noch bedeutest. Und fragst dich, was aus dir wird, wenn er stirbt. Oder geht.«
Kennit schüttelte den Kopf und lächelte sie ironisch an. »Ich fürchte, du traust mir immer noch nicht. Ich habe dir schon gesagt, dass ich immer, bis ans Ende meiner Tage, bei dir bleiben werde. Dennoch hängst du an ihm, als wäre er dein einziger würdiger Partner.« Kennit schwieg
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