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Zaubersommer in Friday Harbor

Zaubersommer in Friday Harbor

Titel: Zaubersommer in Friday Harbor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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überblicken konnte. Es war ein Buntglasfenster mit
einem beeindruckenden Motiv: ein kahler Baum, zwischen dessen Zweigen ein
fahloranger Wintermond ruhte.
    Aber als
sie blinzelte, verschwanden das Motiv und die Farben. Übrig blieb ein
schlichtes Glasfenster, eine klare Flachglasscheibe.
    „Warte. Was
ist das?”
    Sam drehte
sich um, um zu sehen, was sie meinte. „Das Fenster?”
    „Das war
mal ein Buntglasfenster.”
    „Kann schon
sein.”
    „Nein, ganz
sicher. Mit einem Baum und dem Mond als Motiv.”
    „Was immer
mal da war, wurde schon vor sehr langer Zeit rausgerissen. Irgendwann hat mal
jemand versucht, das Haus in mehrere Wohnungen aufzuteilen.” Sam trug sie
fort von dem Fenster. „Du hättest es sehen sollen, als ich es gekauft habe.
Zottelteppiche in einigen Zimmern. Tragende Wände abgerissen, dünne
Gipskartonwände eingezogen. Mein Bruder Alex kam mit seinen Leuten, um die tragenden
Wände zu erneuern und Stützbalken einzuziehen. Jetzt steht das Haus wieder felsenfest.”
    „Es ist
schön. Ein Haus wie aus einem Märchen. Mir kommt es vor, als sei ich schon mal
hier gewesen oder hätte davon geträumt.” Ihr Verstand drohte vor Erschöpfung
die Arbeit einzustellen, sie konnte nicht mehr klar denken.
    Sie
betraten einen langen rechteckigen Raum, der parallel zur Bucht verlief. Die
Wände waren mit breiten Profilbrettern vertäfelt, in einer Ecke war ein offener
Kamin gemauert, und zahlreiche Fenster boten einen herrlichen Blick auf die
schimmernde blaue Wasserfläche der False Bay. Zwei der Fenster waren mit
Fliegengittern versehen und standen offen, um frische Luft hereinzulassen.
    „Da wären
wir.” Sam legte sie auf einem großen Bett ab. Die blaue Steppdecke war
bereits zurückgeschlagen.
    „Das ist
dein Zimmer? Dein Bett?”
    „Ja.”
    Lucy
versuchte sich aufzusetzen. „Sam, nein ...”
    „Sei
still”, fiel er ihr ins Wort. „Ich meine es ernst, Lucy. Du wirst dir noch
wehtun. Du nimmst das Bett. Ich schlafe auf einem Gästebett in einem anderen
Zimmer.”
    „Ich
verdränge dich nicht aus deinem eigenen Zimmer. Ich schlafe auf
dem Gästebett.”
    „Du
schläfst da, wo ich dich unterbringe.” Sam deckte sie sorgfältig mit der
weiß-blau gemusterten Steppdecke zu. Dann stützte er sich mit den Händen links
und rechts von Lucys Körper ab und schaute auf sie hinunter. Vielleicht lag es
an den warmen Strahlen des Sonnenuntergangs, die durch die Fenster fielen,
aber sein Gesichtsausdruck wirkte jetzt entspannter. Mit der Hand strich er ihr
eine Haarsträhne hinters Ohr. „Glaubst du, du kannst lange genug
wach bleiben, um etwas Suppe zu essen?”
    Lucy
schüttelte den Kopf.
    „Dann
schlaf jetzt. Ich schaue später noch mal nach dir.”
    Nachdem er
gegangen war, lag Lucy still da. Das Zimmer strahlte eine heitere Ruhe aus. Es
war angenehm kühl, und aus der Ferne hörte sie das rhythmische Plätschern der
Wellen. Wohltuend unbestimmte Geräusche drangen durch den Fußboden und die
Wände, Stimmen, gelegentlich ein Lachen, das Klappern von Töpfen, Geschirr und
Besteck. Geräusche einer Familie, eines Zuhauses, die sie wie ein Wiegenlied
in den Schlaf geleiteten.
    Sam blieb
auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock stehen, um aus dem Fenster zu schauen.
Der Mond war aufgegangen, noch bevor die Sonne ganz verschwunden war, und stand
als große weißgoldene Scheibe am tiefrosa leuchtenden Himmel. Wissenschaftler
sagten, die Größe des Mondes zur Sommersonnenwende sei eine optische
Täuschung, weil das menschliche Auge eine Entfernung ohne visuelle
Anhaltspunkte nicht richtig wahrnehmen konnte. Trotzdem entsprachen manche
Illusionen viel mehr der Wahrheit als die Wirklichkeit.
    Vor langer
Zeit hatte Sam eine Geschichte über einen chinesischen Dichter gelesen, der
beim Versuch, das Spiegelbild des Mondes zu umarmen, ertrunken war. Er hatte am
Yangtse gesessen und Reiswein getrunken. Zu viel davon offenbar, wenn man von
seinem schmählichen Tod ausging. Aber man hatte weiß Gott keine Wahl, wenn man
sich nach einer Sache oder einer Person sehnte, die man niemals haben konnte.
Ja, man wollte noch nicht einmal die Wahl haben. So tödlich war die Verlockung
des Mondlichts.
    Lucy lag in
seinem Bett. Sie wirkte so zerbrechlich wie eine Orchideenblüte. Er war
versucht, sich im Flur vor der Schlafzimmertür auf den Boden zu setzen, den
Rücken an die Wand gelehnt, und auf ein Zeichen zu warten, dass sie irgendetwas
brauchte. Stattdessen zwang er sich, nach unten zu gehen, wo Renfield mit

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