Zaubersommer in Friday Harbor
in
der Nähe bewachte eine trutzige graue Scheune die Rebstock-Reihen, die wie
Schulkinder auf dem Pausenhof über das Ackerland zu tollen schienen.
Lucy
betrachtete die Szenerie mit verträumter Verwunderung. Wenn San Juan Island
schon eine Welt für sich war, dann war das hier ein verwunschenes Fleckchen
Erde in diesem Mikrokosmos. Das Haus wartete mit offenen Fenstern darauf,
Meeresbrisen, Mondlicht und umherwandernde Geister einzufangen. Auch auf sie
schien es zu warten.
Ihre
Reaktion entging Sam nicht. Er warf ihr einen raschen aufmerksamen Blick zu,
als er den Wagen neben dem Haus abstellte. „Ja”, antwortete er, als hätte
sie ihm eine Frage gestellt. „Genauso habe ich empfunden, als ich es zum ersten
Mal sah.” Damit stieg er aus, ging um den Lkw herum auf die Beifahrerseite,
beugte sich über Lucy und löste den Sicherheitsgurt. „Leg deine Arme um meinen
Hals”, sagte er.
Zögernd kam
sie der Aufforderung nach. Er hob sie hoch, darauf bedacht, mit ihrem
geschienten Bein nirgendwo anzustoßen. Als seine Arme sich um sie schlossen,
überfiel Lucy ein neues rätselhaftes Gefühl: Ihr war, als würde in ihr etwas
nachgeben, sich auflösen. Ihr Kopf sank schwer gegen seine Schulter, und sie
hatte Mühe, ihn wieder zu heben. Sam murmelte: „Ist schon in Ordnung. Alles in
Ordnung.” Und erst dadurch wurde ihr bewusst, dass sie zitterte.
Sie stiegen
die Stufen zu einer breiten Veranda hinauf, deren Überdachung hellblau
gestrichen war. „Geisterblau”, meinte Sam, als er Lucys Blick bemerkte.
„Wir haben versucht, die Originalfarbe so gut wie möglich zu treffen. Früher
haben hier in der Gegend viele Leute ihre Verandadecken blau gestrichen. Manche
behaupten, man versuche damit, Vögeln und Insekten etwas vorzumachen. Sie
sollen glauben, den Himmel über sich zu haben. Aber andere sagen, in Wahrheit
diene das der Abschreckung von Geistern.”
Der
Wortschwall ließ Lucy erkennen, dass Sam doch ein wenig nervös war. Justine
hatte also recht. Die Situation war für sie beide ungewohnt.
„Weiß deine
Familie, dass ich zu Besuch komme?”, fragte sie.
Er nickte.
„Ich habe vom Krankenhaus aus angerufen.”
Die
Vordertür wurde geöffnet, und ein langer Streifen Licht fiel auf die Veranda.
Ein dunkelhaariger Mann hielt ihnen die Tür auf, ein blondes Mädchen und eine
Bulldogge blieben auf der Schwelle stehen. Der Mann war eine etwas ältere,
etwas stämmigere Ausgabe von Sam. Auch er sah auf ungehobelte Weise attraktiv
aus, und ihm war das gleiche umwerfende Lächeln zu eigen. „Willkommen in
Rainshadow”, begrüßte er Lucy. „Ich bin Mark.”
„Tut mir
leid, dass ich mich so aufdränge. Ich ...”
„Kein
Problem”, fiel Mark ihr leichthin ins Wort. Sein Blick glitt zu Sam
hinüber. „Kann ich irgendwie helfen?”
„Ihre
Tasche steht noch im Auto.”
„Ich hole
sie.” Mark eilte an ihnen vorbei.
„Macht mal
Platz, Leute”, forderte Sam das Kind und den Hund auf, und sie rückten
beiseite. „Ich bringe Lucy nach oben.”
Sie
betraten die Eingangshalle mit dunklen Fußböden und hoher getäfelter Decke. Die
Wände waren cremefarben gestrichen, und
überall hingen gerahmte botanische Drucke.
„Maggie
macht das Abendessen”, erzählte Holly und folgte ihnen. „Hühnersuppe,
Hefebrötchen und Bananenpudding zum Nachtisch. Richtigen Pudding, keinen
gekauften.”
„Ich wusste
doch, dass es für Marks Kochkünste viel zu gut riecht”, meinte Sam.
„Maggie und
ich haben dein Bett neu bezogen. Sie sagt, ich bin eine große Hilfe.”
„So mag ich
mein Mädchen. Jetzt geh und wasch dich fürs Abendessen.”
„Kann ich
mich mit Lucy unterhalten?”
„Später,
Schatz. Lucy ist müde.”
„Hallo,
Holly”, meldete Lucy sich über seine Schulter.
Das Kind
strahlte sie an. „Onkel Sam lädt nie jemanden zum Übernachten ein. Du bist die
Erste.”
„Danke,
Holly”, murmelte Sam und trug Lucy die geschwungene Mahagonitreppe
hinauf.
Ein
atemloses Lachen gluckste in Lucys Kehle. „Tut mir leid. Justine hat dich dazu
überredet. Ich bin ...”
„Justine
könnte mich zu nichts überreden, was ich nicht tun möchte.”
Lucy ließ
ihren Kopf auf seine Schulter sinken. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen,
als sie sagte: „Du willst mich nicht hier haben.”
Sam wählte
seine Worte sehr sorgfältig. „Ich will keine Komplikationen. Genau wie
du.”
Als sie den
Treppenabsatz erreichten, starrte Lucy wie gebannt auf das große Fenster, von
dem aus man die Einfahrt
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