Zebraland
anderen reden.
»Das ist doch das Büro der Schülerzeitung, oder?«, fragt Murad.
»Ja, richtig.« Nach einem unsicheren Schweigen fügt Philipp hinzu: »Tut mir leid, was mit deiner Schwester passiert ist.«
»Danke.« Ich frage mich, wie viele Beileidsbekundungen Murad in den letzten Wochen entgegengenommen hat. Was will er nur von uns?
»Gibt es schon irgendeine Spur, wer es gewesen ist?«
Der junge Mann, der Murad begleitet, lacht auf, als hätte Philipp einen schlechten Witz gemacht. »Das ist mein Bruder Kerim«, stellt Murad ihn vor.
»Die Bullen tappen im Dunkeln«, sagt Kerim verächtlich. »Ja, wenn Yasmin ’ne Deutsche gewesen wär e … aber so? Eine Türkin weniger, wen kümmert das schon.«
Als ich hinter meinem Computer hervorlinse, kann ich Phils Unbehagen an seinem angespannten Rücken ablesen. »Die Polizei tut sicher, was sie kann«, sagt er.
»Aber das ist nicht genug!« Ich zucke zusammen, als Kerim mit der Faust in seine andere Hand klatscht. »Deshalb wollen wir die Sache selbst ein bisschen vorantreiben, verstehst du?« Auffordernd blickt er Philipp an.
»Äh, klar. Und wie kann ich euch dabei helfen?«
»Wir dachten, eure Schülerzeitung könnte vielleicht einen Artikel über Yasmin bringen. Mit Interviews von Freundinnen, Verwandten und so.«
»Viele hier, die kannten sie doch gar nicht richtig«, mischt sich Murad mit leiser Stimme ein. »Für die war Yasmin nur so ein Mädchen mit Kopftuch. Ich will, dass die Leute erfahren, was für ein Mensch meine Schwester war. Dass sie nicht so schnell vergessen wird.«
»Dann helfen die Leute vielleicht eher mit, den Täter zu finden«, sagt Kerim grimmig.
»Hat unsere Schwester einfach da im Wald liegen lassen, wie eine angefahrene Katze! Wer macht denn so was?«, fragt Murad.
»Gefängnis ist noch eine viel zu milde Strafe für diesen Mörder.« Kerims Stimme klingt rau, wie aufgerissen von Schmerz und Zorn.
Phil räuspert sich: »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
Wenn Murad sich jetzt auch noch bei uns bedankt, muss ich kotzen. Ich wage einen Blick hinter meinem Computer hervor und sehe, wie Murad nickt und Phil die Hand schüttelt. Dann wenden sich die Brüder zum Gehen. Die Tür fällt zu.
Ich starre auf die sinnlosen Buchstabenfolgen auf meinem Bildschirm.
Philipp sitzt zusammengesunken auf dem Stuhl. Langsam gehe ich zu ihm hinüber und bleibe vor ihm stehen.
»Als Murad kam, hab ich gedacht: Das war’s. Jetzt fliegen wir auf, jetzt müssen wir auffliegen. Aber d u …« Ich schüttle den Kopf, schwankend zwischen Bewunderung und Abscheu. »Man hat dir nichts angemerkt, überhaupt nichts.«
Philipp hat den Kopf in den Händen vergraben. »Scheiße. Das ist alles so daneben«, murmelt er.
»Du ziehst Murads Vorschlag doch nicht etwa in Erwägung?«, frage ich. »Den Mund zu halten ist eine Sache, aber das wäre Heuchelei. Das wäre, als würden wir Yasmin und ihre Familie verhöhnen.« Ich will Philipp klarmachen, dass diese Möglichkeit nicht zur Diskussion steht, keinesfalls. Stattdessen kommt der Satz als Frage heraus. »Das können wir doch nicht tun?«
Dünn hängen die Worte zwischen uns in der Luft.
Philipp hebt den Kopf, seine Augen sind blutunterlaufen. »Begreifst du denn nicht, Judith«, entgegnet er sehr ruhig, »wir können nicht zurück. Welchen plausiblen Grund gäbe es, uns zu weigern? Damit würden wir uns nur verdächtig machen. Nein, wer A sagt, muss auch B sagen. Wir müssen das jetzt durchziehen.« Die letzten Worte scheint Phil eher zu sich selbst zu sprechen: »Haben wir eine andere Wahl?«
»Natürlich haben wir eine Wahl! Man hat immer eine Wahl!« Erregt deute ich auf die Fotos unserer Vorbilder an den Wänden. »Was ist mit all deinen großen Worten, Phil? Dass man für die Wahrheit einstehen muss, selbst wenn es negative Konsequenzen für einen selbst hat? Waren das alles nur leere Phrasen?«
Philipp starrt auf seine im Schoß verkrampften Hände und kaut an seiner Unterlippe.
»N-n-nei n … abe r … Versteh doch, Hexe, a-a-alles würde außer K-k-k-kontrolle ge-geraten!«, sagt er so leise, dass ich ihn kaum hören kann. »Ic h … ich h-hab einfach A-a-angst.«
»Angst, ja? Das soll deine Entschuldigung sein?«, schnappe ich. Er zuckt unter meinen Worten zusammen. »Und das Schlimmste ist, dass du genau weißt, dass es falsch ist. Du weißt es doch, Phil!« Mein flehender, bettelnder Tonfall widert mich an. Ich bin schwach. Schon wieder.
Meine Stimme bricht weg.
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