Zebraland
»Willst du wirklich alles verraten, an was wir geglaubt haben, Phil?«, flüstere ich.
Langsam hebt Philipp den Kopf und sieht mich an.
Seine Augen sind das Schönste an ihm. Sie haben so viele Schattierungen von Grau wie das Meer. Er sieht mich an, als hätte der Rest der Welt aufgehört zu existieren.
So sollte es immer sein. Genau so.
Vielleicht soll ich ihm die Absolution geben, die er so verzweifelt von mir hören will: dass er Recht habe, dass es nicht anders gehe. Dass er trotzdem ein guter Mensch sei. Vielleicht würde er mich für diese Antwort endlich lieben.
Aber ich kann nicht. Ich kann ihn nicht anlügen, wenn er mich so ansieht.
In diesem Augenblick begreife ich, dass unser gemeinsames Leben in einer WG und das Journalistikstudium nur Worte auf Papier bleiben werden. Es ist egal, ob die Polizei uns erwischt oder nicht.
Unsere Träume sind gestorben.
Phils Unterlippe ist zerbissen. Ich betrachte diesen Jungen mit dem Blut an den Zähnen. Meinen besten Freund. Einen Fremden.
Zum ersten Mal sehe ich, wie sehr er seinem Großvater ähnelt. Natürlich, Philipp ist jung, seine Züge sind weicher. Aber es ist alles da, wartet im Verborgenen: das markante Kinn, der leicht zynische Ausdruck um die Mundwinkel. Wenn die Jahrzehnte sein Gesicht geschliffen haben, wird Philipp aussehen wie sein Großvater.
Ziggy
Z: »Kennst du diesen Song von Old Bob, in dem er singt: Cold ground was my bed last night and rock was my pillow, too? «
E: »Klar, Mohn. Talkin’ Blues. Wieso?«
Z: »Weil ich so schlecht schlief. Ich lag in meinem weichen Bett, doch genauso gut hätte ich meinen Kopf auf einen Felsen legen können.«
Ich hatte schon Angst vorm Schlafen. In der Nacht kamen die Albträume.
Wieder und wieder durchlebte ich die Minuten im Wald in einer schauerlichen Endlosschleife.
Auch diese Nacht erwachte ich von meinem eigenen Herzschlag. Mit offenen Augen lag ich in der Dunkelheit und wartete, bis mein Puls sich wieder beruhigt hatte und der Angstschweiß auf meinem Körper getrocknet war.
»So geht das nicht weiter«, murmelte ich. Ich schaltete die Nachttischlampe an und ging rüber zum Kleiderschrank, um mir ein frisches T-Shirt anzuziehen.
Nach kurzem Zögern nahm ich auch Yasmins Büchlein aus seinem Versteck.
»Schlimmer kann’s sowieso nicht mehr werden, Ziggy«, machte ich mir Mut. Vielleicht würde es mir ja helfen, wenn ich mich endlich mit der Sache auseinandersetzte.
Mit dem Buch in der Hand setzte ich mich aufs Bett. Auf einmal war ich ganz ruhig. So oder so, die Dinge würden ihren Lauf nehmen. Ich würde einfach aufhören, mich dagegen zu wehren.
Behutsam schlug ich das Buch auf und blätterte durch die Seiten, so wie es Yasmin vor kurzer Zeit erst getan haben mochte. Sie musste mit dem Kuli ziemlich fest aufgedrückt haben, denn die Buchstaben auf dem dünnen Papier fühlten sich fast an wie die Linien einer Handfläche. Als ich mit den Fingerspitzen darüberstrich, war mir, als könnte ich sogar eine leichte Wärme spüre n …
Ich traute mich nicht, das Geschriebene richtig zu lesen, doch ein paar Satzfetzen blieben trotzdem hängen:
Nicht schwarz, nicht weiß. Gestreift.
Ich hasse es, vor meiner Familie Geheimnisse zu habe n …
Yasmin hatte eine Menge Skizzen von Zebras gemacht. Bewegungsstudien. Unmöglich, dass sie die alle aus dem Kopf gezeichnet hatte. Aber wo hatte sie in diesem Kaff ein Zebra aufgetrieben? Während ich noch darüber nachgrübelte, fielen mir vor Müdigkeit die Augen zu und ich schlief ein, das Buch auf dem Schoß.
Manche Leute schwören ja darauf, vor Klassenarbeiten ihr Vokabelheft unter das Kopfkissen zu legen. Als würden die wichtigen Informationen während des Schlafs durch das Kissen in ihr Hirn hineinwandern. Ich habe das immer für Humbug gehalten. Aber als ich am nächsten Morgen erwachte, wusste ich genau, wo ich nach Yasmins Zebra suchen musste.
Nach der Schule machte ich einen Abstecher in den kleinen Park für die Kurgäste. Ich war seit Jahren nicht mehr dort gewesen, aber es hatte sich so gut wie nichts verändert. Der Barfußpfad war noch da und der Abenteuerspielplatz mit der großen Wippe, die ich als Kind so gemocht hatte. Auch den Streichelzoo gab es noch.
Genau wie früher drückten ein paar fette Ziegen ihre Schnauzen gegen den Maschendraht und bettelten mich um Futter an. In einem anderen Gehege grasten drei Lamas. Und mitten unter ihnen stand ein einzelnes Zebra.
Inmitten des saftigen Grüns einer deutschen Landschaft
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