Zebraland
wirkte es sehr fremd. Es hob den Kopf und drehte aufmerksam die Ohren in meine Richtung. In seinen Augen lag diese Mischung aus Sanftmut und Wildheit, die Mädchen an Pferden vermutlich so begeistert.
Ich setzte mich auf eine Bank, die gegenüber dem Gehege stand. Lange saß ich da und beobachtete das Zebra und die Leute, die vorbeispazierten. Ein Pärchen, eine alte Dame, ein Junge mit einem blonden Labrador an der Leine.
Hey, den Typ kannte ich doch! Es war Daniel Solltau, dieser hochbegabte Wunderknabe. Er war im Schachklub meiner Schule und hatte in letzter Zeit so viele Turniere gewonnen, dass selbst ich das mitgekriegt hatte. Ich nickte ihm zu, als er vorbeilief. Mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen starrte Daniel mich an und erwiderte den Gruß dann zögernd. Ich bemerkte, dass er sich noch mal nach mir umdrehte, bevor er und sein Hund um die nächste Kurve verschwanden.
Eigenartig. Aber noch eigenartiger war der Traum, den ich in dieser Nacht hatte: In meinem Traum sah ich das Zebra. Es stand ganz still, wie eine Statue, und schien in die Ferne zu blicken. Die schwarzen Streifen auf seinem Fell glänzten wie geronnenes Blut. Ich wusste mit der seltsamen Logik, die Träume haben, dass uns die Streifen verraten würden. Sie verrieten, dass wir die Schuld an Yasmins Tod trugen.
Judith, Philipp und Anouk waren auch da. Wir versuchten die Streifen abzuwaschen, so wie wir das Auto abgewaschen hatten. Doch sosehr wir auch schrubbten, das Zebra wurde nicht weiß.
Judith
»Tut mir leid wegen gestern. Ich hab wohl ein bissche n … überreagiert«, presse ich hervor. Ich bin noch nie gut darin gewesen, mich zu entschuldigen.
Phil sieht erleichtert aus. »Schon okay. Du hast ja Recht. Es ist nu r …« Er zuckt unglücklich die Achseln. »Freunde?« Förmlich streckt er die Hand aus und ich schüttele sie.
»Freunde.«
Nachdem wir die ganze Redaktionssitzung steif nebeneinandergesessen und es vermieden haben, uns anzusehen, fühle ich mich jetzt besser.
Kathrin Schneider, die gerade vom Klo zurückkommt, wirft uns einen neugierigen Blick zu. Sie schreibt unsere Kolumnen und ist immer auf der Jagd nach neuen Skandälchen. »Eben auf dem Weg zur Toilette hatte ich das Gefühl, dass jemand mich beobachtet!«, rattert ihr Mundwerk gleich wieder los. »Hoffentlich wird der Täter bald gefasst! Allein der Gedanke, dass so jemand frei rumläuf t …«
Carsten Döblin, der für unser Layout zuständig ist, nickt ernst. Natürlich geht es um Yasmins Unfall. Als hätte der Täter nichts Besseres zu tun, als ausgerechnet Kathrin, diese Labertasche, zu beschatten!
»Hm, ja.« Phil räuspert sich. »Um aufs Wesentliche zurückzukommen: Ich schreibe den Leitartikel. Kathrin und du, Judith, interviewt ein paar Leute über Yasmin.«
Er sieht ziemlich erleichtert aus, als Anouk mit einem Stapel Pizzakartons auf den Armen zur Tür hereinkommt.
»Pizzapause! Einmal Thunfisc h – die war doch für dich, Schatz, oder?« Anouk verteilt die Kartons und sammelt das Geld ein. Nur für Carsten bleibt kein Karton übrig. »Oh, tut mir leid, wir haben dich irgendwi e …« Verlegen bietet sie ihm ein Stück von ihrer Pizza an.
»Ich muss sowieso heim«, murmelt Carsten und steht so hastig auf, dass er fast seinen Stuhl umschmeißt. Wir hören seine Schritte draußen auf dem Flur.
»Er hätte ja was sagen können. Komischer Kerl!«
»Psst! Er kann dich hören, Phil!«, wispert Anouk.
Doch er wischt ihre Worte mit einer Handbewegung weg. »Soll er ruhig, es stimmt doch. Ich bin nicht gerade unglücklich, dass er geht. Endlich wieder Luft zum Atmen. Anscheinend hat Döblin die Entwicklung des Deos nicht mitbekommen.«
Wir bemühen uns vergeblich, unser Kichern zu dämpfen.
»So, dann können wir jetzt zum amüsanten Teil übergehen«, sagt Phil nach dem Essen und wischt sich die Hände mit einer Papierserviette ab. Er schließt den roten Holzkasten auf, der sonst in unserer Pausenhalle hängt, und kippt den Inhalt auf den Tisch: eine kleine Zettellawine. »Zum Nachtisch unser Kummerkasten. Ihr kennt das Spiel. Jeder zieht einen Zettel und liest vor. Der Reihe nach.«
Anouk fängt an: »Hilfe, die Klass e 8d fleht um Rat. Herr Schäfer isst immer Mettwurstbrötchen mit Zwiebeln im Unterricht. Wir würfeln schon aus, wer in der ersten Reihe sitzen muss. Was sollen wir tun?« Sie legt den Zettel in eine Schale. »Die Ärmsten! Da muss was getan werden.«
Danach bin ich dran: »Hallo, meine Englischlehrerin ist die
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