Zebraland
angenehmer Besuch. Komm schon, Hexe!«
Phil sieht mich mit diesem grauen, intensiven Blick an. Mein Widerstand schmilzt dahin. Natürlich gehe ich mit.
Und so stehen wir schließlich im Seniorenheim. Bereit, einen alten Herrn über seine Pistole auszuquetschen. Phil klopft an die Zimmertür und wir treten ein.
Was ich an alten Menschen schön finde
1.) Ihre Art, Äpfel zu schälen, sodass die Schale eine lange, gewundene Girlande bildet, ohne dass sie das Messer einmal absetzen.
2.) Sie geben sich keine Mühe mehr, anderen zu gefallen.
3.) Man kann an ihren Händen ihr Leben ablesen.
4.) Ihre Falten sehen aus wie die Rinde von Bäumen. Bäume mag ich auch.
5.) Die Gelassenheit, die sie ausstrahlen, beruhigt mich. Um diese Ruhe beneide ich sie, sie fehlt mir.
Bei mir ist immer Sturm. In meinem Kopf, in meinem Herzen. Deshalb muss ich laufen. So zügele ich das, was in mir tobt. Die Kraft des Sturmes treibt mich voran, aber ich kontrolliere sie, werde zu einem Pfeil, der vorwärtsschnellt. Mitten ins Ziel.
Zu Phils Opa habe ich ein gespaltenes Verhältnis. Seine Ruhe hat etwas Resigniertes, Verbittertes, das an ihm haftet wie der abgestandene Geruch seiner Wohnung. Auch wenn das Hemd, das er trägt, blütenweiß ist und die Bügelfalten seiner Hose wirken, als seien sie mit dem Lineal gezogen. Dennoch ist es da, hat sich tief eingegraben ins Gesicht wie seine Falten.
Als wir eintreten, sitzt Herr Weißenberg am Tisch und liest in der Tageszeitung. »Hast du mir Zigarren mitgebracht, Junge?«, fragt er, ohne richtig aufzuschauen.
»Du weißt doch, dass die Ärzte dir das Rauchen verboten haben, Opa«, antwortet Phil. Es klingt, als hätte er diese Antwort schon öfter gegeben.
»Ja, ja«, murmelt sein Großvater.
»Guten Tag, Herr Weißenberg«, sage ich verlegen.
Seine buschigen Augenbrauen schießen in die Höhe, als er auf mich aufmerksam wird. »Sieh an, das Fräulein Judith. Meine liebste Weltverbesserin. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?« An Philipp gewandt fragt er: »Traust du dich nicht mehr allein zu deinem alten Großvater?« Dabei lacht er bellend, stoßweise.
Ich spüre, wie Phil an meiner Seite unruhig von einem Bein aufs andere tritt. Die Bemerkung kommt der Wahrheit ziemlich nahe.
»Ic h … ich muss dich was fragen, Opa.«
»Dann frag.« Herr Weißenberg hat sich wieder seiner Zeitung zugewandt: »Ich habe auch viele Fragen. Zum Beispiel, was für eine Welt das ist, in der wir heute leben. All diese Kriege und Verbreche n …«
Seine Finger rascheln durch die dünnen Seiten und einen Moment lang frage ich mich, ob vielleicht auch ein Artikel über Yasmins Unfall in seiner Zeitung steht.
»Moral ist ein dünner weißer Anstrich«, doziert Herr Weißenberg gerade. »Wenn es hart auf hart kommt, wie schnell ist er abgewaschen. Und darunter kommt zum Vorschein, was der Mensch immer war und sein wird: ein Wesen aus Bein und Horn und Blut. Mit Zahnkolben, die um sich beißen. Nur auf das eigene Überleben bedacht.« Er schüttelt den Kopf. »Der Mensch ist nicht besser als ein Tier.«
Bei seinem Gerede vergesse ich ganz, wozu wir eigentlich hier sind. »Das stimmt nicht, nicht alle sind so!«, widerspreche ich aufgebracht. »Es gibt auch andere. Menschen, die wirklich etwas verändert haben, die für ihre Ideale eingetreten sind!«
»Ja, ein paar«, gibt Herr Weißenberg zu. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wunderbare, zeitlose Ideale. Und was ist daraus geworden? Lernt ihr in der Schule noch etwas über die Französische Revolution, Mädchen? Über Robespierre?«
»Das war doch der, der alle hinrichten ließ, von denen er meinte, sie stünden nicht auf seiner Seite.«
»Richtig. Er hat eine Terrorherrschaft errichtet und die Feinde seiner neuen Republik in ihrem eigenen Blut ersäuft. Genauso wie Stalin, der mit dem Kommunismus den perfekten Staat schaffen wollte. Ich sag dir, Mädchen, die Idealisten sind die Schlimmsten.«
»Abe r …«
Ich kann mir vorstellen, dass Herr Weißenberg früher ein ziemlich guter Anwalt war. Er lässt seine Stimme grollen: »Es ist ein schmaler Grat zwischen Ideal und Willkür, Mädchen. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.«
»Ähm, ja. Um noch mal auf meine Frage zurückzukomme n …« Phil nimmt erneut Anlauf: »Opa, ich habe etwas gefunden, in deinem Wohnzimmerschran k …« Als er stockt, blickt Herr Weißenberg von der Zeitung auf. In seinen wässrigen grauen Augen liegt plötzlich ein neuer Ausdruck.
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