Zebraland
Überall gab es nur ein Thema: den Tod des türkischen Mädchens.
Ich entdeckte Judith und Philipp, die die Köpfe zusammensteckten. Ich überlegte, ob ich zu ihnen rübergehen sollte.
Judith wirkte sichtlich nervös. Philipp redete leise auf sie ein und hielt ihre Hand.
Ich sah, wie Judith sich unter seiner Berührung entspannte, als flösse etwas von seiner Ruhe in sie hinein. Sie lächelte und sah ihn an und plötzlich, plötzlich wurde mir klar, dass sie in ihn verschossen war. Na klasse. Es ging doch nichts über Gefühlsduseleien, wenn man sowieso schon bis zum Hals in der Scheiße steckte.
Als hätte Philipp meinen Blick gespürt, schaute er kurz zu mir rüber. Wir nickten uns zu. Flüchtig, als hätten wir nichts miteinander zu tun. Meine Mitverschwörer. Es war wie in einem schlechten Fernsehkrimi.
Auf dem Heimweg kam ich an dem Wohnblock vorbei, in dem Yasmins Familie lebt. Er sah fast so aus wie unserer, nur dass er frisch gestrichen war. Nummer 9 A. »Özlan« stand auf der dritten Klingel von unten.
Ich schaute die Hauswand empor und fragte mich, auf welcher Seite Yasmins Zimmer lag und ob man es von hier aus sehen konnte. Hatten ihre Eltern ihre Sachen weggegeben? Oder sah es in ihrem Zimmer so aus, als sei sie nur zum Bäcker gegangen und würde gleich wiederkommen? Ein Museum, das ihre Mutter täglich besucht e …
Hinter einem der Fenster bewegte sich die Gardine. Ertappt wandte ich mich ab und ging mit raschen Schritten davon. Dabei fragte ich mich, was zum Teufel ich hier eigentlich tat? Philipps Stimme echote in meinem Kopf: dass es jetzt das Wichtigste sei, dass wir uns möglichst unauffällig verhielten.
Möglichst unauffällig, logisch.
Was war nur los mit mir?
Judith
Wir sitzen in der Redaktion und bereiten die nächste Sitzung der Schülerzeitung vor. Das Redaktionsbüro befindet sich im Erdgeschoss, in den Räumen der naturwissenschaftlichen Sammlung. Es ist ein verwinkeltes Kabuff voller Schränke, verstaubter Landkarten und ausgestopfter Tiere für den Biounterricht. An einer Wand haben wir Fotos und Zitate von berühmten Journalisten aufgeklebt.
Wen ich bewundere
1.) Den burmesischen Journalisten U Win Tin, der seit neunzehn Jahren im Gefängnis ist, selbst dort noch Artikel verfasste und an seine Mithäftlinge verteilte.
2.) Den Kriegsfotografen James Nachtwey.
3.) Kurt Tucholsky, der zu den Grenzen der Satire sagte: »So tief kann man nicht schießen.«
4.) Sophie Scholl, die Flugblätter gegen die Nazis verteilte und dafür zusammen mit ihren Freunden der Weißen Rose hingerichtet wurde.
5.) Reporter ohne Grenzen , eine Organisation, die sich weltweit für die Pressefreiheit und die Rechte verfolgter Journalisten einsetzt.
Früher hatte die Schülerzeitung keinen eigenen Raum. Bei der Schülerschaft war die Zeitung ein Dauerwitz.
Doch als Phil vor zwei Jahren Chefredakteur wurde, änderte sich das. Er hat der Schulleitung so lange die Ohren blutig gequatscht, bis der Periskop, unserer Schülerzeitung, zwei ausrangierte Computer zur Verfügung gestellt wurden. Er hatte einige Geschäftsinhaber aus der Stadt überzeugen können, Anzeigen bei uns zu schalten, sodass die Zeitung nun mit einem farbigen Layout erscheinen kann. Und er hat es geschafft, andere Schüler für die Mitarbeit an der Schülerzeitung zu begeistern.
Manchmal, wenn Phil sich unbeobachtet glaubt, sehe ich, wie er mit der Hand über die Bildschirme streicht und lächelt.
Die Periskop ist sein Projekt, sein Baby. Sie erscheint alle drei Monate, die nächste Ausgabe ist bald fällig.
»Wir sollten was über Daniel Solltau bringen, dieses Schachgenie«, sagt Phil gerade, als die Tür aufgeht. Da steht Murad, Yasmins jüngerer Bruder. Ein junger Mann begleitet ihn, ich schätze ihn auf Anfang zwanzig. Er scheint ebenfalls Türke zu sein, vielleicht ein Verwandter.
Wenn Zebra selbst in unserer Redaktion erschienen wäre, hätte ich kaum entsetzter sein können.
Phil hat sich gut unter Kontrolle: »Äh, Judith, wolltest du nicht den Artikel fertig schreiben?« Als ich nicht reagiere, fügt er ungeduldig hinzu: »Du weißt schon, den einen, über den wir eben gesprochen haben.« Endlich kapiere ich: Los, verschwinde! Ich regle das.
»Ac h … ach so, klar.« Erstaunlich, dass meine Beine sich noch immer bewegen. Dass ich rüber zu meinem Computer gehen kann, ganz normal.
Hinter meinem Bildschirm in der Ecke verschanzt, klappere ich sinnlos auf den Tasten herum, während ich zuhöre, worüber die
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