Zebraland
Vielleicht will er Geld erpressen«, antwortete Philipp in gedämpftem Ton. »Sollte ihm allerdings klar sein, dass wir als Schüler nicht besonders viel davon haben.«
»Das ergibt alles keinen Sinn. Wie kann überhaupt jemand von der Sache wissen?«, warf ich ein. »Wir haben doch mit niemand darüber gesprochen?« Aus meiner Feststellung war plötzlich eine Frage geworden. Alle schüttelten den Kopf.
»Erinnert ihr euch noch an das Auto, das an der Unfallstelle vorbeigefahren ist?«, rief Philipp erregt. »Da saß der drin, jede Wette. Er muss uns gesehen haben! Er muss uns erkannt haben!«
Judiths strampelnde Beine wühlten das Wasser auf. »Wir hätten die Polizei rufen sollen«, brachte sie mal wieder ihren Lieblingsspruch. »Diese ganze Geheimhaltungsscheiße bringt uns doch erst recht in Schwierigkeiten. Hätten wir den Unfall sofort gemeldet, wäre nichts von alldem passiert. Zebra wäre noch am Lebe n …«
»Scheiß auf Zebra!«, unterbrach Philipp sie brutal und klatschte mit der Rechten aufs Wasser. »Sie ist tot, Hexe, begreif das doch endlich!«
Judith starrte ihn schockiert an und rückte von ihm ab. Neben mir begann Anouk leise zu weinen.
»Tut mir leid«, sagte Philipp zerknirscht. »Was ich eigentlich sagen wollt e … Es ist zu spät, um Zebra zu retten. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät, um uns zu retten.« Ohne mich um Erlaubnis zu fragen, kletterte er auf meine Schwimminsel.
»Bitte hör doch auf zu weinen, Schatz.« Philipp zog Anouk in eine tropfnasse Umarmung. »Ich würde alles tun, um dich zu beschützen. Das weißt du doch, oder?«
Anouk nickte und schniefte. Zärtlich küsste er sie auf die Wange.
Judith, die immer noch neben der Insel im Wasser trieb, sah aus, als wäre sie am liebsten weggeschwommen. Sie tat mir leid. Als ich ihr die Hand hinstreckte, seufzte sie und ließ sich von mir auf die Insel ziehen. Da saßen wir vier also und guckten zum Ufer hinüber, das auf einmal sehr weit entfernt schien.
Ich sah Elmar, der anscheinend mit einem Mädchen flirtete. Bestimmt wunderte er sich, was ich mit diesen Spießern zu tun hatte. Anouk, Philipp und Judith gehörten nicht gerade zu der Sorte Leute, mit denen ich normalerweise abhängen würde. Aber »normalerweise« war durch den Unfall außer Kraft gesetzt. Wir saßen jetzt alle im selben Boot, oder besser gesagt: auf derselben Schwimminsel.
Judith
In den nächsten Tagen taucht die Autonummer noch an mehreren anderen Stellen auf: ans Schwarze Brett gepinnt, in die Rinde einer Buche geritzt, die auf dem Pausenhof steht.
Anouk berichtet, sie hätte die Nummer sogar auf den Schultoiletten entdeckt, mit Edding zwischen die üblichen anzüglichen Kommentare geschmiert. »Als würden diese Zahlen uns verfolgen«, sagt sie schaudernd.
»Hast du sie übermalt?«, fragt Phil. »Vergesst nicht, wo immer ihr die Nummer finde t – sofort unkenntlich machen. Sonst kommt noch irgendwer auf dumme Gedanke n …«
»Zu spät«, sage ich und zeige auf den Vertretungsplan, auf dem ein weiterer Zettel klebt. »Irgendjemand ist bereits auf dumme Gedanken gekommen.«
Hastig reißt Phil den Zettel ab. » Mose is watching you .«
»Was soll das bedeuten?«, fragt Anouk.
»Da hat jemand zu viel Orwell gelesen«, bemerkt Phil abfällig. »Das ist aus 1984 , George Orwells Roman über den perfekten Überwachungsstaat. Da heißt es: ›Big brother is watching you.‹ Aber was soll das mit Mose?«, grübelt er halblaut. »Ist das nicht dieser Typ aus der Bibel?«
»Echt, Phil«, antworte ich kopfschüttelnd. »Was lernt ihr eigentlich in Ethik? Wie kann man gleichzeitig so klug und so ein ungebildeter kleiner Atheist sein? Mose war der Mann, der das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten geführt hat«, erkläre ich. »Der mit den Zehn Geboten!«
»Okay«, brummt Philipp, der es gar nicht mag, wenn jemand mehr Ahnung hat als er. »Und warum bist du da so eine Expertin drin?«
»Katholisch, schon vergessen?«, entgegne ich und tippe mir an die Brust. »Du kennst doch meine Mutter. Sie hat mich früher jeden Sonntag in den Kindergottesdienst geschleift. Ich war sogar Messdienerin. Zusammen mit diesem Schachgenie Daniel Solltau, Carsten und Dumbo, unserem Schulsprecher.«
Wir schweigen. Es hat zur dritten Stunde geläutet und die Schüler strömen an uns vorbei zu ihren Klassenräumen. Wir müssten jetzt eigentlich in den Biounterricht, doch wir bleiben stehen.
»Der mit den Zehn Geboten also«, wiederholt Phil und nickt. »Na,
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