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Zebulon

Zebulon

Titel: Zebulon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudolph Wurlitzer
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der Besatzung niemand von ihrer Existenz gewusst.
    Bei Nacht schliefen die Passagiere an Deck, bis auf Zebulon, den Grafen und Delilah, die unten blieben.
    Zebulon lag wach und lauschte den wechselnden Geräuschen ihrer gedämpften Gespräche in unbekannten Sprachen, Worten, die manchmal von Rufen skandiert wurden, gefolgt von Seufzern und Delilahs erschöpftem Schluchzen. Wenn sie still waren, stellte er sich vor, dass sie sich liebten. Einmal wollte er, nur um auf sich aufmerksam zu machen, mit seinem Colt ein Loch in die Wand schießen, doch als er abdrückte, tat sich nichts, weil die Kammer leer war.
    In der siebten Nacht in den Kalmen erschien Delilah in seiner Kabinentür und schaute auf den schlafenden Zebulon hinab. Eine blutende Schnittwunde verlief von oben nach unten über ihre Wange, und eine ihrer Brüste schaute aus ihrem Baumwollnachthemd hervor. Erst als er ihren Schenkel an seinem spürte, begriff er, dass er nicht träumte.
    Sie lagen nebeneinander, ohne sich zu rühren, und hörten zu, wie das Cello monoton immer wieder dieselben Tonleitern spielte.
    Als die Töne plötzlich verstummten, legte sie seine Hand auf ihre Brust und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn ich nicht dort bin und du nicht dort bist, wo sind wir dann?«
    Als die Tonleitern wieder einsetzten, verließ sie die Kabine.
    Am nächsten Abend bemerkte der Kapitän bei Tisch, dass er in seinen vielen Jahren auf See nie eine so seltsame und schwierige Passage erlebt habe. Er riet den Reisenden dringend, bei sich zu bleiben, nicht zum Horizont zu starren und so viel wie möglich zu schlafen. Von nun an müsse das Wasser streng rationiert werden, und es werde nur noch eine Mahlzeit pro Tag geben. Als Belohnung für ihre Ausdauer und Geduld stellte er ihnen eine ganz besondere Feier in Aussicht, wenn sie schließlich den Äquator überquerten, etwas anderes als die üblichen Riten, die jenen auferlegt würden, die die Linie noch nie überquert hätten.
    Als der Graf einen Lachanfall bekam, half Delilah ihm auf und führte ihn nach unten.
    Von da an verlief das Essen in Schweigen, als könnte jede beliebige Bemerkung solche dämonischen Kräfte entfesseln.
    Tage dehnten sich zu Wochen. Die Trennlinie zwischen Meer und Himmel löste sich in verschwommenem Grau auf. Von der Poop kamen nicht mehr die Stundenschläge, und der Geruch ungewaschener Körper und schmutziger Wäsche hing über dem Schiff wie das Vorzeichen einer Pestseuche. Die Besatzung erledigte gerade noch die allerwichtigsten Arbeiten und schließlich nicht einmal mehr diese.
    Kapitän Dorfheimer tauchte nur noch hin und wieder auf der Brücke auf, in chinesischen Pantoffeln und einer schlabberigen französischen Unterhose, blieb die übrige Zeit in seiner Kabine und mühte sich mit einem Brief an seine Frau ab, in dem er seine Situation mit einem immer schneller werdenden Strudel der Langeweile verglich, einem Zustand, in dem er sich fühlte, als falle er in ein schwarzes Loch. Er schaute nicht mehr auf seine Karten, und am Ende jedes Tages erfolgte immer der gleiche Eintrag ins Logbuch: Kein Wind.
    Die Passagiere lümmelten auf dem Deck herum, als wären sie in einem Warteraum gestrandet. Die deutschen Händler reservierten sich einen Platz auf dem Heck und spielten Schach, und manchmal brauchten sie einen ganzen Nachmittag für einen einzigen Zug. Der Pole ging auf und ab, schlug sich mit der Hand an die Stirn, sang und murmelte vor sich hin. Keiner der beiden Deutschen merkte es, als er einen Springer vom Brett nahm und ihn über Bord warf. Der Finne sprach mit der barbusigen Göttin am Schiffsbug und gestand ihr seine ehelichen Sünden sowie seine geheimen sexuellen Fantasien. Cox las immer wieder die erste Seite von
Verfall und Untergang des römischen Imperiums
. Zebulon lag auf dem Rücken und schaute in den leeren, unerbittlichen Himmel hinauf. Einmal schwebten Delilahs Fesseln vorüber, und er hörte sie zu dem Finnen sagen: »Waren … Sie … schon … einmal … in … Island …?« Und ständig war da Stebbins, dessen Fantasie er nach wie vor mit Berichten von Indianerkriegen, Schießereien in Texas und Waffenschmuggel in Mexiko anregte. Vielleicht war es aber auch gar nicht Stebbins, sondern der Strom seines eigenen trägen Bewusstseins.
    Trotz der furchtbaren Hitze schlief er weiter in seiner Kabine und belauschte Delilah und den Grafen. Wenn sie still waren, fragte er sich, ob sie gestorben waren, bis er eines Nachts, nur um sich Gewissheit zu verschaffen, die Tür

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