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Zebulon

Zebulon

Titel: Zebulon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudolph Wurlitzer
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zu ihrer Kabine öffnete. Der Graf saß auf der Koje, Delilah rittlings auf ihm, die Beine um seine Taille geschlungen.
    »Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren«, sagte der Graf, Dante zitierend, während Zebulon rückwärts durch die Tür ging.
    Noch eine Woche verging, ohne dass sich ein Lüftchen regte. Die schmerzenden Lungen schnappten nach Luft, die Körper blieben ungewaschen, die Gesichter waren geschwollen und mit Blasen übersät, die Eingeweide verkrampften sich in Durchfall oder Verstopfung.
    Am dreiundzwanzigsten Tag in den Kalmen erschien der polnische Kaufmann auf dem Achterdeck, in einem blauen Anzug mit Krawatte, in der Hand einen hölzernen Koffer. Laut mitzählend ging er dreiundzwanzig Schritte bis zur Reling, dann dreiundzwanzig Schritte zurück, dann wieder dreiundzwanzig vorwärts. Niemand bemerkte es, als er die Beine über die Reling schwang.
    »Meine Damen und Herren«, verkündete er mit lauter, entschlossener Stimme, »Könige und Königinnen, Seeleute und Meerestiere, Sklaven und Herren. Der Mann, den Sie hier sehen, weiß nicht mehr, ob er tot oder lebendig ist. Vielleicht ist er nicht einmal Pole. Vielleicht existiert sein Leben gar nicht oder hat nie existiert. Vielleicht ist dies kein Schiff, sondern ein schwimmender Sarg. Vielleicht träumen wir und werden beim Aufwachen feststellen, dass alles beim Alten ist.«
    Als er über Bord sprang, war nicht genug Zeit und Energie, um ein Rettungsboot zu Wasser zu lassen. Schon bald war nichts mehr von ihm zu sehen außer dem hölzernen Koffer, den sie den ganzen Tag und bis in den Abend hinein langsam auf den Horizont zutreiben sahen wie einen Sarg im Kleinformat.
    Am folgenden Morgen hielt der Kapitän eine kurze Trauerrede. »Wir sind nur zu Gast auf dieser Erde. Wir kommen, und wir gehen. Niemand weiß, wann oder wie seine Zeit kommen wird. Uns bleibt nur, zu glauben und auszuhalten.«
    Er nickte dem Grafen zu, der neben ihm saß, das Cello spielbereit zwischen den Knien. Mit dramatischer Geste stürzte sich der Graf in eine Bachsuite, doch im selben Moment rissen mit lautem Knall wie Pistolenschüsse zwei Saiten.
    Als sei ein Fluch gebrochen, lief plötzlich eine schwache Brise fröstelnd über das Wasser. Überwältigt von diesem Zeichen der Gnade, wandten Passagiere und Besatzung die Gesichter dem Wind zu. Der Finne schrie und zeigte auf einen Fregattvogel, der über dem Steuerbordbug schwebte. Die beiden Deutschen hoben die Hände hoch über den Kopf, um den Wind zu fangen. Zebulon schüttelte dem Finnen die Hand. Die Matrosen umarmten sich und schlugen einander auf den Rücken, dann enterten sie flink auf. Die Segel blähten sich knatternd, und das Schiff nahm Fahrt auf, zunächst langsam und schon bald mit munteren fünf Knoten.
    Sie überquerten den Äquator unter vollen Segeln. Der Kapitän hielt Wort und gab Befehl zu einer grandiosen Feier, zu der er sogar eine großzügige Auswahl aus seinem Privatvorrat an chilenischem Wein, mexikanischem Mescal und spanischem Rum beisteuerte.
    An diesem Abend erschien die Besatzung in weißen Jacken mit Stehkragen an Deck. Die Passagiere trugen ihre besten Sachen aus Europa und New York. Der Graf prunkte mit einer russisch-englischen, schwarz-rot gestreiften Uniform, Delilah erschien elegant in einem hochgeschnürten Pariser Abendkleid und mit weißer Haube. Zebulon trat, von Jubelrufen begrüßt, in einem Ledermantel auf, den er sich von dem Finnen geborgt hatte, ergänzt durch einen improvisierten Hut aus Segeltuch und ein Teil von der französischen Unterwäsche des Kapitäns.
    Der Kapitän feuerte drei Pistolenschüsse ab.
    Die Passagiere, mit Ausnahme von Cox, der den Äquator schon einmal überquert hatte, wurden feierlich in einen großen Bottich Salzwasser getunkt. Ihre Körper wurden mit roter und gelber Farbe beschmiert, und dann mussten sie kriechend einen Spießrutenlauf absolvieren, bei dem die Matrosen ihnen mit Paddeln den Hintern versohlten. Nach einer langen, unverständlichen Rede, in der er Neptun und die örtlichen Meeresgottheiten pries, verkündete der Kapitän, dass Zebulon eine besondere Opferrolle übernehmen werde, was mit lautem Gejohle und Getrampel begrüßt wurde.
    Nachdem ihm der Kopf kahl geschoren worden war, malte man ihm einen blauen Kreis ums Gesicht und sodann zwei rote Linien über die Stirn und die Wangen hinab.
    Als der Kapitän ihn zum Tanzen aufforderte, schlurfte er über das Deck und deklamierte dabei ein visionäres Gebet, während zwei

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