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Zebulon

Zebulon

Titel: Zebulon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudolph Wurlitzer
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Matrosen hinter ihm her tänzelten, von denen der eine Schifferklavier spielte, der andere eine afrikanische Trommel schlug:
    Hi-ei-he-ei … Hi-ei-he-ei!
    Die alten Leute schicken mir ihre Stimme
.
    Von weither, wo die Sonne sinkt
,
    Schickt meine Mama, die Erde, mir ihre Stimme
.
    Ich steh, wo die Sonne sinkt
.
    Die alten Leute reden mit mir
.
    Meine Mama, die Erde, ruft nach mir
.
    Der geflügelte Adler, wo der Riese wohnt
,
    Schickt mir seine Stimme. Er ruft nach mir
.
    All die alten Berggeister:
    Sie alle rufen nach mir!
    Hi-ei-he-ei … Hi-ei-he-ei!
    Vor Delilah blieb er stehen. »Sie sind der Geist, der dort wohnt, wo die Sonne sinkt, der für alle Wasser in allen Ländern sorgt. Sagen Sie mir, wenn das nicht stimmt.«
    »Wenn Sie es wünschen, dann wird es so sein«, erwiderte sie.
    Sie nahm dem Kapitän die brennende Zigarre aus der Hand und blies ihm Rauch über Gesicht und Kopf. Dann gab sie die Zigarre Zebulon, der es mit dem Grafen und dann mit den übrigen Passagieren genauso machte.
    »Hör mir zu, Wakan Tanka, Großer Geist!«, rief er und schritt auf und ab. »Hör auf diesen Mann, der sich reinigen möchte. Deinetwegen ist der Wind zurückgekommen, und unsere Reise geht weiter. Jetzt sind wir unterwegs! Keine Landratte, kein Greenhorn ruft nach dir, sondern ein alter Bergwolf, der um die Kraft und das Licht bittet, um uns alle loszurütteln von dort, wo wir zwischen den Welten steckengeblieben sind. Ist das zu viel verlangt? Wie du es auch siehst, es ist eine Arbeit, die nur du, der Schöpfer, erledigen kannst, bist doch du, Wakan Tanka, der eine, der den Vögeln und Fischen die Kraft gibt zu fliegen und zu schwimmen … Hör auf diesen Mann, Wakan Tanka! Gib uns ein Zeichen. Lass uns wissen, dass wir nicht verloren sind:
Hecheto welo

    Trommeln dröhnten und Hörner blökten, als der Kapitän zusammen mit der Besatzung und den Passagieren weinte und sang und sie alle ihren Dank durch die Nacht riefen.
    Als Zebulon bei Tagesanbruch erwachte, lagen die Passagiere immer noch an Deck und schliefen, bis auf den Grafen und Delilah, die an der Reling standen.
    Plötzlich packte der Graf Delilah an den Haaren und riss ihr den Kopf nach hinten.
    »Törichte Frau«, sagte der Graf. »Nach allem, was wir durchgemacht haben, klammerst du dich noch immer an die Hoffnung.«
    Als Delilah ihn ins Gesicht schlug, zwang er sie in die Knie.
    »Bekenne dich zu deiner Unzulänglichkeit«, herrschte er sie an.
    Er drückte ihr das Kinn aufs Deck. »Wenn ich dich erinnern darf: Du bist nicht amüsant, du putzt meine Stiefel nicht, du hörst mir nicht zu.«
    Ihre Augen fanden Zebulon, der sich hingekniet hatte und ihren Blick erwiderte.
    »Du verzichtest nicht darauf, mich aus Ignoranz zu verraten«, fuhr der Graf fort. »Willst du noch mehr hören? Ich habe noch einiges auf Lager.«
    »Nichts mehr«, sagte sie leise.
    Sie stieß den Grafen so heftig, dass er hinstürzte.
    Als Zebulon aufstand und zu ihr ging, packte der Graf sie an der Fessel, rappelte sich auf, versuchte mit aller Gewalt, sie zu umarmen, und küsste sie auf den Hals und die Brust, und dabei weinten sie beide und schrien einander auf Russisch an. Als sie sich losriss, wollte er sie festhalten, doch sie stolperte und fiel rückwärts über die Reling.
    Zebulon war ihr schon nachgesprungen, da fiel ihm ein, dass er nicht schwimmen konnte.
    Er sank mit geschlossenen Augen unter Wasser, seine Lunge drohte zu bersten, als werde sein Sinken, sein langsamer Fall in das, was er sich als einen riesigen offenen Mund vorstellte, von einer unsichtbaren Macht gesteuert. Oder war er schon verschlungen und wurde jetzt verdaut? Dass er wirklich und wahrhaftig von dieser schwarzen Wassermasse erdrückt wurde, brachte ihm auch eine gewisse Erleichterung: Endlich stellte er sich dem, wovor er sich am meisten fürchtete. Es war eine Furcht, die er sich nie bewusst gemacht hatte, eine, die stets in ihm gewesen war, seit er ein kleiner Junge war und Hatchet Jack ihn in dem Bach vor der Hütte ertränken wollte, um sich seiner neuen Familie bemerkbar zu machen.
    Auge in Auge mit seinem eigenen Tod sah er plötzlich, dass Leben und Tod nicht dasselbe waren. Sie waren verschieden, und er hatte die Wahl, nur war es zu spät.
    Als er von dem in seine Lunge eindringenden Wasser allmählich ohnmächtig wurde, zog ihn ein Arm unter dem Kinn nach oben, dem Licht entgegen.
    »Still liegen«, wies ihn Delilah an und hielt seinen Kopf über Wasser.
    Doch er empfand nichts als Panik.

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