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Zehn (German Edition)

Zehn (German Edition)

Titel: Zehn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Potente
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dem heutigen Bewerbungsgespräch hing eine Menge ab.  
    Es war wichtig, die Götter auf seiner Seite zu haben. In den letzten Monaten hatte er die Gebete und Tempelgänge sehr vernachlässigt.  
    Er hatte das Haus früh verlassen und auf dem Weg nach Ginza beim Yasukuni-Schrein haltgemacht und die große Glocke geläutet. Eigentlich war das ein Umweg. Nun sollten alle Götter auf seiner Seite sein.Wenn nur das Reiskorn nicht wäre.  
    Er war zu früh in Ginza. Viel zu früh. Deshalb hatte er noch zu Mittag gegessen. Maguro Donburi, Tartar vom Thunfisch auf Reis.  
    Die Schale war leer, sein Magen voll, aber wo war das verflixte Reiskorn geblieben?  
    Er ging auf die Knie und sah unter dem niedrigen Tisch nach, ja, er hob sogar die Tatamimatte an, auf der er saß.  
    Nichts.  
    Er stieß mit seinem Po an den leeren Nachbartisch, ein Glas fiel um. Die alte Dame hinter der Theke sah zu ihm hinüber. Entschuldigend verbeugte er sich mehrmals.  
    Wenige Minuten später brachte sie die Rechnung: »Ist Ihnen nicht wohl, junger Mann?« Sie stellte ein Glas Wasser vor ihn hin. Fast hätte er sich ihr anvertraut, aber das war unmöglich.  
    »Vielen Dank, alles ist in bester Ordnung. Haben Sie Dank für Ihre Freundlichkeit. Ich wünsche einen schönen Tag!«  
    Eilig zog er seine Schuhe an, um dann hastig das Lokal zu verlassen. Er sah auf die Uhr. Nun musste er sich beeilen! Die Sucherei nach dem verschwundenen Reiskorn hatte ihn eine halbe Ewigkeit gekostet.  
    Zunächst fand er das richtige Gebäude nicht. Er musste sich durchfragen, die Leute schauten ihn mit großen Augen an. Er musste ziemlich aufgelöst aussehen. Es gab nirgendwo einen Spiegel. Während er zügig die Straße entlangging, fuhr er sich durchs Haar und zog die Krawatte fest.  
    Wie hieß der Mann noch, den er nun treffen sollte?  
    Da, da war er endlich, der Oshinko Tower. Er musste in den neunundvierzigsten Stock. Der kleine Aufzug hielt viel zu lange in jedem Stockwerk.  
    Tanaka-san? Nein, der Mann hieß … Takanara-san?  
    Fast hätte er den neunundvierzigsten Stock verpasst.  
    Ein Mädchen mit blondiertem, glattem Haar saß an der Rezeption. Sie verbeugte sich leicht: »Ja, bitte?«  
    Er riss sich zusammen und bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen und gelassen zu wirken: »Ich … ich habe ein Bewerbungsgespräch.«  
    Sie blickte ihn kurz an, dann schaute sie auf die Schreibtischplatte vor sich und errötete.  
    Er war irritiert. Sie sprach leise: »Bei wem haben Sie das Bewerbungsgespräch, bitte?«  
    Er dachte angestrengt nach: »Bei Takanorai-san, bitte.«  
    Glück gehabt.  
    Ihre Finger flogen über die Tastatur. Dann griff sie zum Telefonhörer. »Einen Moment, bitte. Nehmen Sie Platz.«  
    Er setzte sich auf einen der beiden Stühle gegenüber der Rezeption.  
    Im Kopf ging er noch einmal die wichtigsten Punkte durch. Er hatte sein Jurastudium in Kyoto mit dem zweitbesten Ergebnis seines Jahrgangs abgeschlossen, er hatte ein sechsmonatiges Praktikum bei Yukonishi Ltd. gemacht, er sprach fließend Englisch, er wäre auch mit einem zunächst zeitlich begrenzten Vertrag einverstanden, er … Da fiel ihm das Reiskorn wieder ein.  
    Sein Leben lang hatte er nie ein Reiskorn auf die Erde fallen lassen, und heute, ausgerechnet heute, war es passiert.  
    Er hatte sich nie gefragt, ob es die Götter wirklich erzürnte, er hatte nicht darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn er den Göttern gegenüber respektlos war.  
    Er seufzte. Erschrocken sah er auf, ob ihn das Mädchen an der Rezeption gehört hatte. Sie tippte scheinbar unberührt in ihren Laptop, aber es war ihm, als würde sie ein Grinsen unterdrücken. Ihr Telefon klingelte, sie sprach kurz und winkte ihm leicht.  
    Er stand auf.  
    »Takanorai-san erwartet Sie! Bitte folgen Sie mir!«  
    Sie ging mit kleinen Schritten voraus, die Fußspitzen leicht nach innen gedreht, und führte ihn einen langen Gang entlang. Vor einer Teakholztür blieb sie stehen. Sie blickte ihn nicht an, errötend sah sie auf ihre Schuhspitzen. »Verzeihen Sie bitte … Sie haben da … Da klebt ein Reiskorn an Ihrer linken Augenbraue.«  
    Er blickte sie ungläubig an. Was war das?  
    Langsam hob er die Hand an sein Gesicht. Ja, da war das Reiskorn!  
    Vorsichtig nahm er es zwischen Daumen und Zeigefinger, sah es sich genau an und steckte es dann in den Mund.  
    Das Mädchen verneigte sich kurz und ging.  
    Er lächelte, die Götter meinten es gut mit ihm.

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