Zehn (German Edition)
DAS MONSTER
S ie hielt inne. Rieb sich das Gesicht. Massierte die Schläfen und strich sich mit Druck über die Stirn. Dann die Nase und die Wangen entlang.
Sie hatte noch kein Make-up aufgetragen. Noch konnte sie ihr Gesicht reiben.
Sie war müde. Eigentlich, dachte sie, war sie immer müde. Deshalb trank sie viel Cola. Sie mochte die roten Dosen. Als Kind hatte sie die leeren Dosen aufgehoben und heimlich unter dem Bett gesammelt. Das Zaubergetränk aus Amerika. Sie fühlte sich wach und unternehmungslustig, wenn sie eine Dose geleert hatte.
So müssen wohl die Amerikaner sein, wach und unternehmungslustig, hatte sie gedacht. Es war ihr Traum gewesen, nach Amerika auszuwandern. Als Teenager hatte sie immer Cola getrunken und sich mit ihrer Freundin Ikuko ausgemalt, zusammen nach Amerika zu gehen, als Modedesignerinnen vielleicht? Sie hatten zu Paula Abdul getanzt und Levi’s Jeans getragen.
Aber dann war Ikuko schwanger geworden und hatte ganz schnell heiraten müssen. Sie war weggezogen, nach Shikoku, einer Insel, sehr weit weg von Tokio. Nun hörten sie kaum noch voneinander.
Wieder rieb sie ihr Gesicht, wischte die Erinnerungen fort.
Dann horchte sie. Es war still.
Sie unterdrückte den Impuls, aufzustehen und nachzusehen.
Ihr Magen knurrte. Der Kühlschrank war voll. Da war noch der Lachs, den sie gestern gegrillt hatte, die Berge hauchdünn geschnittenen Rindfleischs für Shabu Shabu heute Abend, Tamagoyaki, kleine Omeletthäppchen, die die Nachbarin gebracht hatte.
Alle hatten bemerkt, wie dünn sie geworden war. Schon vor der Hochzeit war sie zart gewesen, nun war sie fast durchsichtig, zerbrechlich.
Essen war zu anstrengend.
Die anderen aßen, schlangen und schlürften. Ihre Aufgabe war es, das Essen zuzubereiten. Manchmal war sie allein davon satt, den anderen zuzusehen.
Im Zimmer nebenan rumorte es. Kurz hatte sie für möglich gehalten, dass das Monster vielleicht eingeschlafen war.
Doch da war es wieder. Schreie, wütendes Schnauben, dann ein dumpfer Knall. Etwas war gegen die Wand geworfen worden, mit zorniger Gewalt.
Dann Stille.
Kurz hielt sie sich die Ohren zu.
Dann tobte das Monster weiter. Sollte sie ihm ein paar süße Mochibällchen bringen, um das aufgebrachte Gemüt zu besänftigen?
Keine Zeit. Sie hatte zehn Minuten, um Make-up aufzutragen, dann zwei Minuten, um die Nattôbohnenreste aufzuwischen, die das Monster auf dem Tisch hinterlassen hatte, und dann noch acht Minuten, um den Reiskocher zu überprüfen, Misosuppe aufzusetzen und den Tisch zu decken.
In zwanzig Minuten würde der Mann kommen, hungrig.
Er war seit fünf Uhr auf den Beinen. Erst beim Fischmarkt die großen Thunfische abladen, dann Ware ausfahren.
Sie hatten sich ein Jahr lang gekannt, dann hatte er um ihre Hand angehalten.
Damals war sie dreißig. Und wohnte noch bei den Eltern. Alle Freundinnen waren bereits verheiratet, viele hatten Kinder. Sie beschloss damals, dass es Zeit sei.
Nach der Hochzeit stellte sie fest, dass der Mann nicht so lustig war, wie sie gedacht hatte, dann kam das Kind. Und mit dem Kind die unzähligen Kleenexschachteln. Sie benutzte die weichen, dünnen Tücher, um Kot, Erbrochenes, Pipi oder Essensreste aufzuwischen.
Sie hatte zwanzig Minuten, wenn nichts dazwischenkam, wenn das Monster sich ruhig verhielt.
Mechanisch begann sie, ihr Gesicht einzucremen, dabei betrachtete sie sich im Spiegel. Sie war vierunddreißig. Früher hatten Freunde gesagt, sie sehe aus wie Audrey Hepburn. Alle hatten ihre Alabasterhaut gelobt und das glänzende Haar.
Sie hatte es nach der Geburt abgeschnitten, diese Dinge waren jetzt nicht mehr wichtig. Sie trug das Make-up dünn auf, mit einem kleinen Schwämmchen. Ein wenig Puder. Als sie den Eyeliner ansetzt, regt sich das Monster wieder. Die Tür vom Kinderzimmer geht auf.
Ihre Hand zittert leicht. Kurz schaut sie hoch.
Da steht es. Zornig, schnaubend. Es stampft mit dem Fuß auf, rüttelt an der Türklinke.
Das Kind.
Es ist vier Jahre alt. Vor einem Jahr wurde aus dem Kind das Monster.
Das Monster, das nie schlafen will, das immer schreit, stampft, knurrt und hungrig ist. Das mit allem schmeißt, um sich schlägt und ihre Pantoffeln vom Balkon wirft.
Vorsichtig zieht sie die Linie.
Das Monster schreit und wirft sich auf die Erde. Sie schaut nicht auf.
Seit der Mann weniger zu Hause ist, ist alles schlimmer geworden.
Das
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