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Zehn (German Edition)

Zehn (German Edition)

Titel: Zehn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Potente
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Kind ist in der Nachbarschaft bekannt. Die alten Damen lieben sein rundes Gesicht mit den großen Augen. Es ist der Held des Viertels. Jeder will ihm Süßes zustecken.  
    Es ist der Zucker, der Zucker macht das Kind verrückt, sagt die Ärztin.  
    Aber was soll sie tun? Sie hat nicht die Kraft, dem Monster die Mochibällchen, die Schokoladenbananen und die Cola zu entreißen.  
    Jetzt steht es da und schreit.  
    Dann rennt es plötzlich auf den Balkon.  
    Sie versucht, ruhig die Wimpern zu tuschen, schaut über den Rand des Spiegels zum Balkon.  
    Die Wäscheklammern fliegen.  
    Sie muss die Suppe aufsetzen, es bleibt nicht mehr viel Zeit.  
    Jetzt hat es den blauen Wäschekorb umgedreht und versucht, auf ihn draufzuklettern.  
    Gebannt hält sie inne. Das Monster steht nun auf dem Korb, das Geländer des Balkons geht ihm nur noch bis zur Hüfte.  
    Er ist groß für sein Alter, sagen die Nachbarn.  
    Triumphgeheul schallt über die Dächer von Shinjuku.  
    Nun versucht es sich am Geländer hochzuziehen, mit zielloser Kraft kämpft es mit der Ungeschicktheit des zornigen Leibes.  
    Sie schaut nur.  
    Was wäre, wenn sich das Monster zu Tode stürzte?  
    Es wäre ein Unfall. Es wäre plötzlich still.  
    Sie nimmt leise eine Cola aus dem Kühlschrank. Wenn das Monster die sieht, kommt es angerannt und verlangt auch danach.  
    Geräuschlos trinkt sie. Früher fühlte sie sich wach und unternehmungslustig, jetzt ist sie nervös.  
    Sie stellt sich an den Herd, knipst die Dunstabzugshaube an und raucht.  
    Dabei lässt sie es nicht aus den Augen, wie es beharrlich versucht, auf das Geländer des Balkons zu klettern. Nun fällt ein Schuh.  
    Das Monster ist kurz irritiert, quiekt und rutscht ein Stück zurück, hängt aber noch halb über dem Geländer.  
    »Gleich …«, denkt sie. »Gleich ist alles vorbei.«  
    Die Dunstabzugshaube rauscht, sie schließt die Augen, bläst den Rauch in den Metallschlund.  
    Dann ist alles vorbei. Ein tragischer Unfall. Die Familie reist von überall her an, nach der Beerdigung werden alle Verständnis dafür haben, dass sie still ist, dass sie allein sein will und Zeit braucht. Sie darf schlafen, den ganzen Tag. Die alten Tanten werden ihr Sobatee bringen und den Rücken reiben. Man wird nicht darüber sprechen, was vorgefallen ist.  
    Dann wird sie ein Ticket kaufen, nach Amerika, und einfach gehen.  
    Die kleine Wohnung mit dem elektrischen Wärmeteppich, die Kleenexschachteln, die Pantoffeln, den Reiskocher, all das wird sie hinter sich lassen.  
    Sie hat den Mann nicht gehört. Er zieht nicht die Schuhe aus. Er stürzt auf den Balkon. Die Haustür fällt krachend ins Schloss. Durchzug.  
    In letzter Sekunde fängt er das Kind.  
    Es schreit. Wütend tritt es den Vater. Der schließt die Balkontür. Er trägt das Kind unter dem Arm in die Küche.  
    Er schaut sie nicht an, setzt das Monster vor ihr ab.  
    Dann geht er zur Haustür, zieht seine Schuhe aus und die Pantoffeln an.  
    Sie hat die Zigarette ausgemacht.  
    Und setzt die Suppe auf.  

 
    KORE WA NAN DESU KA?  
    oder »Was ist das?«  
    S ie standen in der Schlange. Tadaski trat unruhig von einem Bein aufs andere, während Haruka ruhig abwartete und geduldig einen Knoten in ihrem dünnen Silberkettchen löste.  
    Es war Buddhas Geburtstag, der 8. April.  
    Seit drei Jahren waren die beiden ein Paar, und seit drei Jahren gingen sie am 8. April gemeinsam zum Asakusa-Sensôji-Tempel. Heute waren sie allerdings spät dran. Sie hatten ihr kleines Apartment in Arakawa bereits um elf Uhr verlassen. Doch obwohl Asakusa nicht weit von Arakawa entfernt war, hatte heute alles länger gedauert.  
    Haruka wollte vorher unbedingt den Umweg über Shibuya machen.  
    Ihre kleine, von ihr heiß geliebte Schwester hatte in wenigen Tagen Geburtstag, und Haruka wollte ein spezielles Geschenk erstehen. Was auch immer »speziell« bedeuten sollte, das wusste Tadaski nicht.  
    Aber er hatte in Shibuya fast dreißig Minuten auf Haruka warten müssen, weil sie darauf bestand, das geheimnisvolle Geschenk alleine zu kaufen. Er hatte also an der Straßenecke gestanden und sich gefragt, was sie wohl für ihre Schwester ausgeheckt hatte.  
    Miyu, Harukas Schwester, war ihm nicht geheuer. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte hell blondiertes Haar und immer viel Geld. Was sie jedoch arbeitete, wusste keiner, und man sprach auch nicht darüber.  
    Außerdem war sie weder verlobt noch verheiratet.  
    Als er

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