Zehn (German Edition)
zu bereuen.« Er lachte. »Ich weiß gar nicht, was ich bereue. Ernest Hemingway hatte wahrscheinlich eine wildere Jugend als ich.«
Frau Michi verstand nicht, wovon der Mann sprach, aber es klang nett.
Sie setzte neues Teewasser auf und öffnete eine Packung Reisgebäck.
Sie zeigte auf den Päonienblütenfächer, den Herr Schreiber immer noch in den Händen hielt. »Dieser Fächer war der Lieblingsfächer meiner Mutter. Sie selbst war sehr geschickt mit Pinsel und Tusche. Mein Vater hat ihre Fächer immer gut verkauft. Er hat sie aber nie gelobt für ihre Fertigkeit. Er zeigte immer auf diesen Fächer und sagte: Das ist wahre Kunst. Mache einen solchen Fächer, und wir werden reich.«
Herr Schreiber sah sich den Fächer noch einmal genau an. Die Farbwahl war bestechend. Das blasse Rosa auf burgunderrotem Untergrund hatte eine Intensität, die magisch war. Die Verbindung von der Zartheit der Blüte mit ihrem kräftigen Rot und dem goldenen Rand war wirklich etwas Besonderes. Und trotz seiner Schlichtheit hatte der Fächer eine opulente Note. »Sie haben recht. Der Fächer ist tatsächlich etwas ganz Besonderes. Man sieht es sofort. Ich bin mir sicher, dass Ihre Mutter sehr begabt war.«
Frau Michi sprach leise und sah dabei auf die Innenflächen ihrer Hände: »Nun, kurz bevor mein Vater starb, kopierte meine Mutter den Päonienblütenfächer. Wir brauchten Geld, um die Arztrechnungen zu bezahlen, so verkaufte sie das Original. Sie halten ihre Kopie in den Händen. Das Original hatte blassblaue Blütenblätter. Meine Mutter gab dem Fächer mit den blassrosa Blüten eine eigene Note. Ich fand immer, dass dieser Fächer weitaus schöner war als das Original.«
Sie nahm einen Schluck Tee.
»Eine Woche später starb mein Vater. Er hat nie erfahren, was für ein Kunststück meine Mutter geschaffen hat. Ich bereue bis heute, dass ich es ihm nicht gesagt habe.«
Vorsichtig fragte Herr Schreiber nach: »Warum hat Ihre Mutter ihm den Fächer nie gezeigt? Er wäre sicher stolz auf sie gewesen!«
Frau Michi schüttelte den Kopf: »Es ist nicht an dem Künstler, auf seine Kunst hinzuweisen. Das wäre Hochmut.«
Still tranken sie ihren Tee. Herr Schreiber sah auf die Uhr. Der Sturm hatte nachgelassen. Er musste gehen. Er würde gerne den Daikoku-Fächer und die drei Spatzen kaufen, sagte er.
Frau Michi rechnete. Es kamen fast 50 000 Yen zusammen, die Herr Schreiber mit einem Lächeln zahlte. »Ihre Fächer sind bei mir in guten Händen. Vielen Dank für den schönen Nachmittag und den Tee.« Er verbeugte sich tief. »Es war mir eine Freude.« Er drückte zum Abschied leicht ihren Arm.
Frau Michi sah ihm nach, wie er eilig die nasse Straße herunterlief.
Die 50 000 Yen würden ihr über die nächsten zwei Monate helfen. Sie war frohen Mutes.
Nachdem sie die Teekanne ausgespült hatte, brachte sie Frau Kim die Leiter zurück und erzählte ihr, sie werde in der nächsten Woche den Zug nach Kyoto nehmen, um die Familie Akira zu besuchen.
Es regnete nur noch leicht, und sie schloss den Laden, bevor der Sturm möglicherweise wieder stärker werden würde.
Als sie an diesem Abend ihre Füße unter dem Kotatsu wärmte, dachte sie daran, dass im entfernten Deutschland Menschen lebten, die die Welt sahen und zu ihr in ihren kleinen Laden fanden. Das beruhigte sie.
Am nächsten Tag war der Himmel wolkenlos. Sie rief einen Handwerker, um die Scheibe im Laden zu erneuern. Dann wechselte sie die Auslage und staubte die Fächer ab.
Am Mittag brachte ein Bote ein Päckchen.
Sie erwartete keine Lieferung und glaubte zunächst, der Bote habe sich geirrt. Doch es war tatsächlich für sie.
Obenauf lag ein kleines Kärtchen: »Dieser Fächer und seine Geschichte gehören Ihnen. Es war mir eine Freude, davon zu hören, und ich möchte Ihnen Ihre Spatzenfamilie zurückschenken. Es war sehr schön, Sie kennenzulernen. Falls sie einmal nach Deutschland kommen, würde ich mich freuen, Ihnen München zu zeigen. Ihr Wilhelm Schreiber.« Er hatte auch eine Adresse und eine E-Mail-Adresse angegeben.
Unter weißem Seidenpapier verborgen lag der Spatzenfächer.
Frau Michi atmete hörbar aus. So etwas war ihr noch nie passiert. Fast hätte sie weinen müssen.
Sie bemerkte Frau Kim nicht, die vor der Ladentür stand und im Begriff war anzuklopfen.
Frau Kim hatte ein Schwätzchen halten wollen. Doch als sie Frau Michi mit dem Kärtchen in der Hand am Tresen stehen
Weitere Kostenlose Bücher