Zehn Milliarden (German Edition)
die einzelnen Blätter und Umschläge neben sich aufs Bett. Die meisten Papiere schienen Briefe zu sein, ab und zu eine Ansichtskarte, ein Foto, ein Zeitungsausschnitt. Nick las jedes einzelne Blatt, bevor er mit bewegter Miene aufschaute. Erst jetzt bemerkte er, dass Julie immer noch reglos dastand und ihn beobachtete.
»Oh, entschuldige, Liebes. Komm, setz dich doch. Das scheint so etwas wie Vics Vermächtnis zu sein«, sagte er mit belegter Stimme und deutete auf die Fundstücke neben ihm. Briefe von Emily, Fotos aus besseren Tagen und die Todesanzeige seines Bruders.« Julie fand es nicht richtig, in den Briefen zu lesen, doch sie betrachtete die Umschläge mit Absenderanschriften von Lausanne, Genf, Amsterdam, alle an Victor de Moreau hier in Los Angeles adressiert, außer einem einzigen. Dieser Brief trug Emilys Anschrift in Amsterdam, und er war zugeklebt, frankiert, aber offensichtlich nie aufgegeben worden.
»Hast du den gesehen?«, fragte sie zögernd. Erst beim zweiten Hinsehen verstand er, was sie meinte.
»Warum hat er ihn wohl nicht eingeworfen?«
»Vielleicht sein letzter Brief, vielleicht brachte er es nicht übers Herz, ihn abzuschicken«, sagte sie leise. Er nickte geistesabwesend, während er den Umschlag betastete. Niemals hätte er diesen Brief des besten Freundes an seine Schwester geöffnet, wäre der spröde Verschluss nicht von selbst aufgeplatzt, als er das Kuvert aufhob. Er zögerte lange, bevor er das gefaltete Papier herauszog und zu lesen begann.
Meine geliebte Emily,
wenn du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr in Los Angeles sein. Ich habe mich entschlossen, alle Brücken hinter mir abzubrechen, ein neues Leben zu beginnen, um die Geister der Vergangenheit endlich loszuwerden. Nach dem Tod meines kleinen Bruders, den ich mit meiner ganzen großartigen Wissenschaft und Gelehrtheit nicht habe verhindern können, scheint mir die einst so geliebte Arbeit hier nicht mehr wichtig. Ich habe das Vertrauen in den wissenschaftlichen Fortschritt, in meine Arbeit, in mich selbst, verloren. Ich habe lange vergeblich versucht, mich dagegen zu wehren. So ergibt das alles keinen Sinn mehr. Ich muss neu anfangen, aber ich darf dich, meine Liebste, nicht in diesen Strudel hineinziehen, darf die wertvolle Liebe, die uns verbindet, nicht gefährden. Ich muss diese große Krise allein bewältigen und glaube, dass du mich eines Tages verstehen wirst.
Ich ziehe mich in den hintersten Winkel der Welt zurück, wo mich die Vergangenheit hoffentlich zur Ruhe kommen lässt. Niemand außer dir wird wissen, wo ich mich aufhalte. Einzig meine anonyme e-Mail-Adresse werde ich als Verbindung offen halten. Bitte frage mich nicht, was ich zu tun beabsichtige, ich weiß es selbst noch nicht.
Emily, ich liebe dich über alles und werde nie aufhören, dich zu lieben. Ich wünsche nur, dass du glücklich wirst.
Dein Vic
P. S. Meine geheime Adresse ist: 17 31'07.42"S 149 54'42.88"W
P. P. S. Ich habe Nick die Schlüssel für mein Boot gegeben. Er wird Sorge tragen zu meiner ›Emily‹.
Wortlos reichte er Julie das Blatt und wartete, bis sie es gelesen hatte. Dann erzählte er ihr, was seinen Freund in diese tiefe Krise gestürzt hatte.
»Vic ist Mediziner, einer der besten Neurologen, wie du weißt. Er hatte einen kleinen Bruder, das Nesthäkchen der Familie, mehr als zehn Jahre jünger als er. Und ausgerechnet dieser aufgeweckte, fröhliche Junge, den alle vergötterten, musste an einem unheilbaren Hirntumor erkranken. Bis zuletzt glaubte Vic, ihn noch retten zu können, vergeblich. Der Junge und Vics Wissenschaft hatten keine Chance. Der Tag, an dem er den kleinen Lucas, wie er ihn nannte, zu Grabe trug, hat ihn geknickt, hat ihm seine Machtlosigkeit so drastisch vor Augen geführt, dass er bis heute nicht darüber hinweggekommen ist. Den Rest kennst du ja jetzt.« Julie hatte Tränen in den Augen, schmiegte sich an ihn und sagte lange nichts. Sie hielt immer noch den Brief in der Hand, der seine Empfängerin nie erreicht hatte, als sie fragte:
»Und deine Schwester, hat sie noch Kontakt zu ihm? Weiß sie, warum er sie verlassen hat, wo er ist?«
»Das sind eine Menge Fragen«, antwortete er mit mattem Lächeln. »Wie ich Vic kenne, hat er ihr bestimmt erklärt, warum er sich zurückzieht. Und ich weiß, dass sie sich regelmäßig mailen. Aber ich denke, sie kennt seinen Aufenthaltsort nicht. Vielleicht ist das der Hauptgrund, warum er den Brief nicht abgeschickt hat.«
»Aber wir
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